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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York
Autoren: Nadine Sieger
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war. Der Bus sammelt die New Yorker mit ihrem Louis-Vuitton-Gepäck an mehreren Stationen in der Stadt ein und liefert sie in den kleinen Örtchen der Insel ab. Meine Fahrt dauerte keine zweieinhalb Stunden. Es war früher Samstagmorgen. Wäre ich am Freitag mit dem Rest Manhattans raus gefahren, hätte die Anreise wahrscheinlich doppelt so viel Zeit in Anspruch genommen. Warum? Weil wir gleich nach dem Midtown Tunnel gemeinsam mit den anderen New Yorkern stundenlang im Stau festgesteckt hätten. Auch wenn viele Wege nach Rom führen, in die Hamptons führt nur die Route 27.
    Die kleinen Örtchen der Insel hatten etwas Unwirkliches. Alles war niedlich, grün und sauber wie in einem Freilichtmuseum. Fast schon zu sauber. Valerie nannte diese kalkulierte Idylle „Disneyfizierung“. Eine schöne heile Welt. So schön, dass ich sehr gut verstehen konnte, warum es so viele großstadtmüde New Yorker hierher zog.Nachdem der Bus von der Autobahn abgebogen war, hatten wir lauter kleine malerische Dörfchen mit graubraunen und weißen Schindelhäuschen und historischen Cottages passiert, die auf großen grünen Grundstücken mit vielen Bäumen standen. Letzter Halt des Jitneys war Montauk, die Stadt an der östlichsten Inselspitze, wo das Land gleich hinter dem Leuchtturm ins Meer kippte. Ich stieg drei Stopps vorher aus, in East Hampton, der inoffiziellen Hauptstadt. An den Bürgersteigen parkten glänzende Jeeps vor schicken Boutiquen, in denen Designermode und Antiquitäten verkauft wurden. Natürlich gab es auch hier eine Starbucks-Filiale, aber ganz nach Maßstäben der lokalen Ästhetik: Unauffällig hatte sich die Kaffeekette in ein hübsches Schindelhäuschen einquartiert.
    Ich stand auf dem Bürgersteig und holte tief Luft. Sauerstoff ! Den hatte ich in dieser Dosis schon seit Wochen nicht mehr eingeatmet. Hier war es gleich ein paar Grad kühler, längst nicht so schwül, und eine leichte Brise strich angenehm durch die Baumwipfel.
    Valerie holte mich mit einem roten Jeep von der Bushaltestalle ab.„Davids Leihwagen. Steig ein, wir fahren gleich zum Strand“, rief sie mir zu. Ich war schon seit Monaten nicht mehr in einem Auto gefahren, das kein Taxi war. Geschweige denn hatte ich selbst hinterm Steuer gesessen. Bis zu diesem Augenblick hatte ich Autofahren auch gar nicht vermisst. Aber plötzlich überkam mich die große Lust, mal wieder Gas zu geben. „Das mag komisch klingen, aber meinst du, ich kann nachher mal fahren?“
    „Natürlich, gleich jetzt, wenn du magst. Ich navigiere dich zum Beach“, sagte Val und sprang aus dem Auto. Ich schnallte mich an, war sogar für einen kurzen Moment aufgeregt. Die simple Automatikschaltung verwirrte mich im ersten Augenblick. Der Wagen fuhr sich wie einAutoscooter, man musste nur Gas geben und bremsen. Anfangs suchte meine rechte Hand in den Kurven vergebens den Schaltknüppel. Das Radio spielte „More than this“ von Roxy Music, und je näher wir dem Ozean kamen, je größer wurden die Grundstücke und die Einfahrtstore der Luxusfestungen. Man konnte die Villen aus der Distanz nur erahnen, weil sie sich hinter großen Bäumen und Büschen versteckten. Durch das offene Fenster blies mir der Fahrtwind entgegen, und ich konnte das salzige Meer schon riechen, bevor es zu sehen war. Und da lag er, direkt vor uns. Der Atlantik. New York erschien weiter weg als jemals zuvor, auch wenn nur hundert Meilen und zwei Stunden zwischen diesem Strand und Manhattan lagen.

    Wir saßen glücklich auf dem endlosen Sandstrand und beobachteten die Surfer, die im Wasser auf ihren Brettern saßen und geduldig auf eine gute Welle warteten. Um uns herum hatten in großzügigen Abständen Bilderbuchfamilien ihre bunten Strandmuscheln geparkt. Braun gebrannte Kinder mit ausgebleichtem, strohblondem Haar übten auf Boogie Boards für ihre Surfbrett-Zukunft. Die Mütter blickten durch teure Designersonnenbrillen in Modemagazine. Ein paar mit Kokosnuss eingeölte junge Mädchen lagen in knappen Bikinis vor uns im Sand. Im Visier zwei knackige Lifeguards, die von ihrem riesigen weißen Aussichtstuhl gelangweilt aufs Meer starrten. Hinter den Dünen duckten sich die gigantischen Villen, die geschmackvoll im lokalen Baustil in die Landschaft eingebettet waren. Die Baulöwen hatten es nicht geschafft, den wertvollen Küstenstreifen durch Boutiquehotels oder moderne Hochhäuser mit Eigentumswohnungen zu ruinieren. Dank der Reichen, die wollten es hier einfach nur schön haben und nicht so protzig
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