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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York
Autoren: Nadine Sieger
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der Upper East Side begegnet war. In die Gegend um die gut betuchte Park Avenue verirrte ich mich höchst selten. Mitte des 19. Jahrhunderts bewohnten Industriebarone, Adelige und die wohlhabendsten Familien Amerikas die dortigen Residenzen. Bis heute ist die Neighborhood am Central Park die begehrteste Adresse der Upperclass. Und offensichtlich auch der Dermatologen. Denn auf der Suche nach einem Hautarzt stieß ich immer wieder auf die gleichen Straßen rund um die Park Avenue. Auf jedem Block schien es mindestens eine Praxis zu geben. Arztbesuche in Amerika waren eine umständliche Angelegenheit. Dank des amerikanischen Gesundheitssystems konnte ich mir nicht einfach einen Arzt aussuchen. Meine Krankenversicherung bezahlte nur, wenn der anvisierte Dermatologe Teil deren Netzwerkes war. Ansonsten muss man die kompletten Kosten selber tragen oder weitersuchen.
    Auf dem Weg begegnete ich etlichen Klischeegestalten, wie man sie nur hier fand. Realer als die Wirklichkeit.
    Damen – klein und hager, makellos frisiert, manikürt, streng nach Diät lebend und von einer Wolke teuren Parfüms umgeben. An der Leine zitternde Schoßhunde. Die Portiers halten die Türen auf, grüßen mit Namen, bevor dieLadys wieder in ihre Zehn-Zimmer-Festungen verschwinden, die mit schweren Teppichen, Seidentapeten, Antiquitäten, Silberbesteck und Kristalllüstern vollgestopft sind.
    Viele dieser Damen sahen aus, als wenn sie bei den ansässigen Dermatologen ein- und ausgingen. Die Eingriffe hatten Spuren hinterlassen, statt Jahrzehnte zu verjüngen. Ein lebenslanges Endlosprojekt. Auf Fettabsaugen an Schenkeln und Kinn folgte die Lidkorrektur, folgte die Bauchstraffung, folgte die Botox-Injektion in Faltenkrisengebieten, folgte die schockierende Erkenntnis, dass das Resultat leider nicht immer so beeindruckte wie bei Demi Moore.
    Im Wartezimmer hatte ich das Gefühl, dass ich die einzige Patientin mit einem so profanen Anliegen wie Muttermalen war. Die Einrichtung erweckte den Eindruck eines modernen Spas. Ganz im Gegensatz zu den üblichen Arztpraxen, in denen sich hinterm Empfang noch altmodisch die vergilbten Papierordner mit Patientenberichten stapelten, meist bis an die Decke. Vor mir checkte eine geföhnte blonde Lockenmähne ein. Die Dame trug High Heels und ein quietschgrünes Chanel-Kostüm, in dem ein tadelloser Körper mit langen schlanken Beinen steckte. Ende dreißig, schätzte ich von hinten.
    Sie drehte sich um und vor mir stand eine etwa siebzig Jahre alte Frau. Ihre beiden pinkfarben geschminkten, aufgespritzten Lippen lächelten mir entgegen. Der Rest ihres faltenlosen, braun gebrannten Gesichtes war zu einer bewegungslosen Maske erstarrt. Ich lächelte zurück, spürte, wie sich die Lachfalten in meine Backen gruben, und fühlte mich alt.

    Zurück zu Bumble & Bumble. Ein mir fremdes Ich stand frisch geföhnt an der Kasse und hatte keine Ahnung, wem wie viel Tip in die kleinen Umschläge gesteckt werdenmusste. Im Dienstleistungsparadies New York benötigte man als Europäer für Trinkgelder auf jeden Fall eine Gebrauchsanweisung. Grundsätzlich galt: Immer tippen. Alle. Die Kellner im Restaurant genauso wie die Jungs, die an der Tankstelle Benzin nachfüllten. Den Teenager, der an der Kasse im Supermarkt die Tüten einräumte, genauso wie die Chinesin, die einem ordentlich die Nackenmuskulatur durchmassiert hatte. Sonst machte man sich schnell unbeliebt. Außerdem wusste jeder, dass das Trinkgeld oft den eigentlichen Verdienst ausmachte, weil die Mindestlöhne kaum der Rede wert waren.
    Keith, der mir die Haare gewaschen hatte, bekam laut Kassiererin fünf Dollar. Die Hairstylistin Laura zwanzig Prozent des Preises, also aufgerundete dreißig Dollar. Und dann hatte mir noch jemand anderes ungewollt die Haare geföhnt. Noch mal fünf Dollar.
    165 Dollar später zwang ich mich, meine neue Föhnfrisur nicht mit einem Haarband zu ruinieren. Ich wollte meinem neuen New-York-Look eine Chance geben. Aber jedes Mal, wenn ich mein Spiegelbild in einem Schaufenster erspähte, blickte mir eine junge Frau entgegen, mit der ich nichts anfangen konnte.
    Am nächsten Morgen in der Dusche spülte sich der Upper-East-Side-Look automatisch raus, und nach dem Lufttrocknen sah ich wieder aus wie ich selbst. Mit Zopf.

    Dann passierte es doch noch.
    Erst wollte ich gar nicht mitkommen. Wir hatten schon die letzten beiden Samstagnachmittage auf der Party im PS 1 verbracht, und ich musste mal wieder dringend mit Deutschland telefonieren und
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