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Ein geschenkter Tag

Ein geschenkter Tag

Titel: Ein geschenkter Tag
Autoren: Anna Gavalda
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tragen, und bei Verkäuferinnen, die ihr das Croissant ohne Servierzange reichen. Sie leidet beim gemeinsamen Nachmittagskakao in der Schule und bei Schwimmbad-ausflügen, wenn sich die Kinder die Hand geben, bevor sie sich ihre Pilzerkrankungen weiterreichen.
    Leben ist für sie eine aufreibende Angelegenheit.
     
    Mich persönlich stören diese desinfizierenden Erfrischungstücher ungemein.
    Andere immerzu als wandelnde Mikrobenschleuder wahrzunehmen. Immerzu einen prüfenden Blick auf die Fingernägel zu werfen, wenn sie jemandem die Hand gibt. Immerzu auf der Hut zu sein. Sich immerzu hinter einem Schal zu verschanzen. Immerzu die Kinder zu warnen.

     
    Fass das nicht an. Das ist schmutzig.
    Nimm deine Hände weg.
    Teil dein Essen nicht mit anderen.
    Lauf nicht auf die Straße.
    Hock dich nicht auf die Erde, sonst setzt's was!
     
    Sich immerzu die Hände waschen. Sich immerzu den Mund abwischen. Immerzu zehn Zentimeter über der Klobrille das Gleichgewicht halten und Küsschen geben, ohne den anderen mit den Lippen zu berühren. Immerzu die anderen Mütter danach zu beurteilen, ob ihre Kinder saubere Ohren haben. Immerzu.
    Immerzu über andere richten.
     
    Das stinkt ja fürchterlich, dieses Zeug. In Carines Familie ist man übrigens schnell dabei, wenn es darum geht, hemmungslos über Araber herzuziehen.
    Carines Vater spricht von Araberpack.
    Er sagt: »Ich zahl Steuern, damit dieses Araberpack zehn Kinder in die Welt setzt.«
    Er sagt: »Ich würde die alle in ein Boot stecken und die ganze Brut versenken ...«
    Gern sagt er auch: »Frankreich ist ein Land von Sozialhilfeempfängern und Taugenichtsen. Die Franzosen sind alle Idioten.«
     
    Und häufig kommt er zu dem Schluss: »Ich arbeite die ersten sechs Monate des Jahres für meine Familie und die übrigen sechs für den Staat, da soll mir keiner mit den Armen und Arbeitslosen kommen, klar?! Ich arbeite jeden zweiten Tag dafür, dass Ma-madou seine zehn Negerinnen schwängern kann, also verschont mich mit euren Moralpredigten!«
     
    Ich denke vor allem an ein bestimmtes Mittagessen. Ich erinnere mich nicht gern daran. Es war anlässlich von Alices Taufe. Wir hatten uns alle bei den Eltern von Carine in der Nähe von Le Mans zusammengefunden.
    Ihr Vater ist Leiter eines Casinos (des Supermarkts, nicht der Spielhölle), und als ich ihn am Ende der gepflasterten Allee zwischen seinem kunstschmiedeeisernen Laternenpfahl und seinem schmucken Audi sah, habe ich erst richtig den Sinn des Wortes blasiert begriffen. Diese Mischung aus Dummheit und Arroganz. Diese unerschütterliche Selbstgerechtigkeit. Der hellblaue Kaschmirpulli über dem dicken Bauch und die seltsam herzliche Art, Leuten die Hand zu reichen und sie zugleich zu hassen.

     
    Ich schäme mich, wenn ich an das Essen zurückdenke. Ich schäme mich, und ich bin nicht die einzige. Lola und Vincent haben auch ihre Probleme damit, wie ich mir vorstellen kann ...
    Simon war nicht dabei, als das Gespräch ausgeartet ist. Er war hinten im Garten und baute an einer Hütte für seinen Sohn.
    Er ist es wohl gewöhnt. Er weiß wohl, dass es besser ist, das Weite zu suchen, wenn der dicke Jacquot alle Hemmungen fallenlässt.
     
    Simon ist wie wir: Er mag das Gezänk nach dem Essen nicht, fürchtet Konflikte und entzieht sich jeglicher Art von Kräftemessen. In seinen Augen ist es vergeudete Energie, man soll seine Kräfte für interessantere Kämpfe aufsparen, sagt er. Bei Leuten wie seinem Schwiegervater ist von vornherein Hopfen und Malz verloren.
    Und wenn man ihn auf das Erstarken der Rechtsextremen anspricht, schüttelt er den Kopf: »Pah, das ist der Bodensatz auf dem Grund eines Teichs. Das kann man nicht vermeiden, das ist menschlich. Lassen wir den Bodensatz lieber in Ruhe, sonst steigt er noch an die Oberfläche.«
     
    Wie hält er diese Familienessen bloß aus? Wie schafft er es, seinem Schwiegervater beim Schneiden der Hecke zu helfen? Er denkt an Leos Hütte.
    Er denkt an den Moment, wenn er sein Söhnchen an die Hand nimmt und sich schweigend mit ihm ins Unterholz verzieht.
     
    Ich schäme mich, denn an besagtem Tag haben wir die Klappe gehalten.
    Wieder einmal haben wir die Klappe gehalten. Sind auf die Äußerungen dieses wild gewordenen Lebensmittelhändlers, dessen Blick nicht über den weit entfernten Bauchnabel hinausreicht, nicht eingegangen.
    Wir haben ihm nicht widersprochen. Sind nicht vom Tisch aufgestanden. Haben langsam weitergekaut, jeden einzelnen Bissen, und bei uns gedacht,
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