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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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die Bausteine, auf die ich mich stürzte, um meine unwahrscheinliche Geschichte zu entwerfen. Ich habe das Wollknäuel ihres Lebens auf meine Weise abgewickelt und die Begegnung der beiden Menschen, die mich zeugten, auf dieselbe Weise frei erfunden wie meinen Bruder, als schriebe ich einen Roman.
    Die gemeinsame Begeisterung für den Sport hatte Maxime und Tania zusammengebracht: Meine Geschichte konnte nur im Stadion beginnen, in das ich sie so oft begleitete.

    Entlang der Marne erstreckt sich das Sportgelände des Club Alsacienne mit Schwimmbad und Turnhalle. Bevor man das Eingangstor erreicht, das von einem schmiedeeisernen Storch gekrönt wird, kommt man an den vielen Ausflugs- und Tanzlokalen am Flußufer vorbei. Sonntags drängt alles zu den Restaurants mit Tanzflächen, in denen man zu einem Teller fritiertem Fisch ein Viertelchen herben Weißwein genießt. Zu den Klängen eines Akkordeons halten sich dort hemdsärmelige junge Männer und Mädchen in geblümten Kleidern umschlungen, und im Hochsommer entkleiden sie sich, um ins kühle Wasser zu springen. Die Unbekümmertheit derBadenden und die Freudenrufe der Tanzenden stehen im Gegensatz zum Keuchen und Stöhnen der Asketen in den weißen Trikots, die auf den Rasenplätzen des Stadions bekunden, daß ihre Konzentration voll und ganz ihrer Sportart gilt.

    Maxime ist das As der Truppe, er glänzt in der Turnhalle, legt beim Ringen im griechisch-römischen Stil seine Gegner auf die Matte, senkt sich an den Ringen mühelos in den Kreuzhang. Er hat einiges wettzumachen, denn er hat früh im Strickwarenhandel seines Vaters zu arbeiten begonnen. Als rumänischer Emigrant verfügte Joseph nicht über genügend Mittel, um seinen drei Kindern eine längere Ausbildung zu ermöglichen. Die beiden älteren gaben sich mit ihrem Schicksal zufrieden, heirateten früh und schlugen stoisch die Laufbahn ihres Vaters ein. Aber der jüngste, Maxime, wäre gern Arzt oder Rechtsanwalt geworden, er wollte gern einen Beruf ergreifen, der ihm einen Titel verschafft hätte. Mit einem »Doktor« oder einem »Maître« wäre der ausländische Klang seines Nachnamens in Vergessenheit geraten, bei dem man die Entwurzelung wittert, die Versuchung heraushört, das »r« zu rollen, dem die Küchengerüche Mitteleuropas anhaften, Kennzeichen, die zu deutlich hervortreten in den Augen eines jungen Mannes, der gern ein Dandy wäre. Er ist mit Leidenschaft Pariser und möchte in seiner Stadt aufgehen, ihre Moden mitmachen, sich von der Unbeschwertheit anstecken lassen, die hier herrscht.
    Er war der Liebling seiner Mutter Caroline, die starb, als er noch ein Kind war, und er gefällt sich darin, einVerführer zu sein. Er kleidet sich geschmackvoll, trägt Maßhemden. Er möchte glänzen, und als erste bedeutende Anschaffung leistet er sich ein Cabriolet mit Ledersitzen und viel Chrom. Das Haar im Wind und den Ellbogen lässig auf der Fahrertür, fährt er kreuz und quer durch Paris, lauert auf die Blicke der Passantinnen, bremst an den Warteschlangen der Taxistände, um irgendeiner Unbekannten die Heimfahrt anzubieten. Schon früh hat er gesehen, wie sich seine charmanten Gesichtszüge in den Augen junger Frauen widerspiegelten.
    Auf einer seiner ziellosen Spazierfahrten entlang der Marne kommt er auch am Gelände des Club Alsacienne vorbei. Beeindruckt von diesen eifrig trainierenden jungen Männern und Frauen meldet er sich sofort an und nimmt in verschiedenen Sportarten das Training auf, um sein körperliches Ideal zu verwirklichen.
    Durch jahrelanges Krafttraining und Geräteturnen bildet er schließlich seine Traumfigur heraus: Bei dieser breitschultrigen, athletischen Statur denkt niemand mehr an seine Herkunft!

Tania bemerkt als einzige die unsichtbaren Linien, die das Stadion durchziehen. Die Modezeichnerin erfaßt sie mit einem Blick und fügt sie zu abstrakten Kompositionen: Schienen aus Stahl, Funken, Anspannung und Lockerung, die sie mit einem Strauß bunter Farben in ihrem Skizzenbuch festhält.
    Sie steht für Modeschöpfer auf dem Laufsteg, und in der übrigen Zeit fertigt sie Modeskizzen, die eine Zeitschrift ihr abnimmt. Frauen im Halbprofil, die sich leicht in den Hüften wiegen, mit bedruckten Stoffen bekleidet und Federbüscheln im Haar. Sie wohnt am Fuß des Montmartre in der Rue Berthe in einer Dreizimmerwohnung, die zum Modeatelier ihrer Mutter gehört. Als kleines Mädchen hat sie dort viele Stunden auf einem Hocker gesessen und den fuchtelnden Händen der rundlichen
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