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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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»Vergeßt vor allem nicht die Kleinen.«

    Wie könnte man auch die Kleinen vergessen, Schatten ohne Grabmale, Rauchschleier über feindlichem Land? Ich blieb reglos stehen, den Blick starr auf die Inschriften gerichtet. Auf diesem Friedhof, liebevoll gepflegt von der Tochter des Mannes, der Simon eine Reise ans Ende der Welt ohne Rückfahrkarte beschert hatte, kam mir die Idee zu diesem Buch. In seinen Seiten sollten die Toten, über die ich früher nie hatte trauern können, eine letzte Ruhestätte finden.

Ein Ruf meiner Tochter ließ mich hochschrecken. Sie wollte mir einen allein stehenden Stein zeigen, der oben zu einem Halbkreis behauen war und von Zweigen verborgen wurde. Ein Grab, das bescheidener war als die anderen:

    Dear Grigri
    1934-1948
    Dieser Hund war besonders geliebt und betrauert worden. Vielleicht lag es an der Kürze der Grabinschrift, daß dieses Grab bewegender war als die anderen. Aber wer hatte um ihn getrauert? Wieder rührten mich diese einfachen Worte, und ich mußte erneut an Echo denken, bevor die Empörung in mir aufstieg. Wohin mit meinem Zorn? Sollte ich diese Gräber schänden, die Steine mit Schmähungen besudeln? Ich ärgerte mich über mich selbst, solche Gedanken paßten gar nicht zu mir. Rose wurde langsam ungeduldig, ich schlug ihr vor, sie solle schon mal nach Hause zu ihrer Mutter gehen und mich noch einige Augenblicke hier allein lassen. Sie war einverstanden und entfernte sich, winkte mit der Hand, ohne sich umzudrehen.

    Ich setzte mich auf einen Baumstumpf, hinter mir reckte sich eine Turmspitze im Sonnenuntergang immer weiter, bis ihr Schatten die ersten Gräber erreichte. Außer dem Rascheln des Laubs im Wind und dem lauten Gezeter einer Amsel war nichts zu hören. Ich betrachtete meine Hände, die auf meinen Schenkeln lagen, die Furchen und Risse, die mit der Zeit auf ihnen erschienen waren. Sie erinnerten mich an die Hände meines Vaters, so wieich ihn in den letzten Lebensjahren kannte. Endlich ähnelte ich ihm.
    Ich sah auch Louises Hände vor mir, ihre starken Finger, die manche Sorgen von meinen Eltern nahmen, und Esthers Hände, die wie Vögel vor ihrem Gesicht herumflatterten, wenn sie bei den sonntäglichen Abendessen unsere Familie unterhielt. Schließlich erinnerte ich mich an die Hände meiner Mutter, die in den ersten Monaten nach ihrem Schlaganfall krampfhaft eine Schaumstoffrolle umklammerten, damit sich ihre Fingernägel nicht in ihre Handflächen bohrten. An die Hände meiner unwiderruflich verstummten Mutter, die sich auf ihre Krücke gestützt nur noch zwischen Wohnzimmer und Schlafzimmer bewegte. Noch einmal erlebte ich die Verzweiflung meines Vaters über dieses Schauspiel: Vergeblich suchte er beim Anblick seiner Frau nach der Schönheit, die er einst an ihr bewundert hatte, als sie sich von einem Brückenpfeiler in die Lüfte schwang, um für einen Augenblick über dem Wasser der Creuse zu schweben.

    Vor den Grabsteinen auf diesem Stück Rasen dachte ich wieder an die letzte Geste meines Vaters. Er faßte seine Frau um die Taille, half ihr aufzustehen und führte sie behutsam durchs Wohnzimmer auf den Balkon hinaus zu einem letzten Sprung. Was mag er ihr ins Ohr geflüstert haben, bevor er sie in seine Arme schloß und mit ihr in die Tiefe stürzte?

Louise und Esther, die beiden einzigen Überlebenden unserer Familie, hatten mich auf den Friedhof Père-Lachaise begleitet. Wir wachten alle drei beim Sarg meiner Mutter, während mein Vater wunschgemäß wieder zu Hannah und Simon zurückkehrte und eine schwarze Rauchsäule aus dem Kamin des Krematoriums aufstieg. Gemeinsam nahmen wir die Urne mit seiner Asche entgegen, um sie neben meiner Mutter im jüdischen Teil des Friedhofs zu bestatten. Dann zogen sich die beiden Frauen diskret zurück, um mich allein am Rand des Grabes meiner Eltern gedenken zu lassen. Als ich sie niedergeschlagen und ratlos wie damals, nach der Überquerung der Demarkationslinie, die von hohen Bäumen gesäumte Allee entlanggehen sah, beeilte ich mich, sie wieder einzuholen. Ich schlüpfte zwischen meine beiden alten Freundinnen und hakte mich bei ihnen unter, um sie zum Eingangsportal des Friedhofs zu begleiten.
    Kurze Zeit danach besuchte ich wieder das Mémorial . In einer Zeitung hatte ich gelesen, daß die Klarsfelds ein Buch über die französischen Kinder veröffentlichen wollten, die deportiert und ermordet worden waren. Ich hinterlegte bei ihrer Dokumentationsstelle das Foto von Simon, das ich in der Schublade
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