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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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und fest entschlossen, alles zu erzählen, nannte ich ihm die Zugnummer, das Datum des Transports nach Auschwitz, den Todestag seiner Frau und seines Sohns. Ich sagte ihm auch,daß sie die täglichen Schrecken des Lagers nicht erlebt hätten und daß einzig der Haß ihrer Verfolger am Tod von Hannah und Simon schuld sei. Trotz seines heutigen Schmerzes, seiner ewigen Schuldgefühle dürfe er es nicht länger zulassen, daß dieser Haß noch immer seine Wirkungen entfalte. Daraufhin sagte ich nichts mehr. Ich stand auf, zog die Übergardinen zur Seite, öffnete die Tür und bat meine Mutter herein. Dann wiederholte ich alles noch einmal, damit auch sie erfuhr, was ich wußte.
    Zum Abendessen kam mein Vater aus seinem Zimmer. Als ich vom Tisch aufstand, um schlafen zu gehen, legte er seine Hand mit leichtem Druck auf meine Schulter und hielt mich zurück. Ich schloß ihn fest in meine Arme, was ich in meinem ganzen Leben noch nie gemacht hatte. Sein Körper kam mir zierlich vor, es war der Körper eines alten Mannes, den ich um einen Kopf überragte. Seltsamerweise fühlte ich mich so stark, daß ich keine Träne vergoß. Der Tod unseres Hundes leitete eine neuerliche Wende ein: Ich hatte meinen Vater von seinem Geheimnis befreit.

Epilog

An einem Sommerabend verspürte ich Lust, in dem Wäldchen spazierenzugehen, von dem das Schloß in unserer Nähe umgeben ist. Ich fragte meine Tochter, ob sie mich begleiten wolle.
    Ich ging mit Rose die Straße hinauf, die zum Dorf hinausführt. Wir erreichten das alte Fallgitter, und ein Stück weiter drangen wir ein in das Dickicht aus Ästen und Bäumen, die bei einem Sturm umgestürzt waren, um uns dem Schloß von hinten zu nähern. Flankiert von vier schiefergedeckten Türmen schien das Gebäude mit geschlossenen Fensterläden zwischen seinen Wassergräben zu schlafen.

    Bei meinem letzten Spaziergang war ich aus Versehen auf dieses Gelände gelangt, und der Zufall hatte mich in die Nähe des kleinen Friedhofs geführt. Wer mochte unter jenen Steinen ruhen? Da ich fürchtete, überrascht zu werden, war ich bei jedem Knacken eines Zweiges zusammengezuckt. Das Auftauchen eines Jagdaufsehers auf der Esplanade des Schlosses hatte mich davon abgebracht, mir den Friedhof näher anzusehen.
    Aber an diesem Tag war der Weg frei: Wir konnten über den quer liegenden Baumstamm steigen, der den Zugang zu dem Rasengeviert versperrte, und vor einer Gräberreihe in den umzäunten Bereich eindringen.

    Zwischenzeitlich hatte ich mich über das Schloß* und seinen Besitzer erkundigt. Ein alter Dorfbewohner nannte mir seinen Namen: Comte René de Chambrun,ein Nachfahre des Marquis de Lafayette, Anwalt für internationales Recht, verheiratet mit der Tochter von Pierre Laval und ein eifriger Verfechter der Sache seines Schwiegervaters, Autor mehrerer Werke, die diesen rehabilitieren sollen.
    Jetzt wußte ich, bei wem wir waren. Meine Tochter und ich gingen zu den Grabsteinen. In der ersten Reihe konnten wir lesen:
    Barye
    1890
    Pompée
    1891
    Madou
    1908
    Brutus
    1909
    Ein Hundefriedhof. Ähnlich den Friedhöfen, die die alten Kirchen in unserer Gegend umgeben. Eine von den früheren Schloßherren begründete Tradition, die – den jüngeren Gräbern nach zu schließen – von ihren Nachfolgern fortgeführt wurde:
    Whisky
    Sohn von Soco
    1948-1962
    treuer Freund meines Vaters
    Josée de Chambrun
    Vasco
    1972-1982
    Sterben war der einzige Schmerz,
    den er uns je zugefügt hat
    Josée de Chambrun
    »Treuer Freund«, »der einzige Schmerz, den er uns je zugefügt hat«, diese Gemeinplätze rührten mich. Ich sah Echo wieder vor mir, wie er allein gelassen auf dem Tisch der Tierarztpraxis lag, bevor man ihn auf den Berg der Tierkadaver warf, die zur Einäscherung bestimmt waren. Doch bei der Lektüre dieser Grabinschriften empfand ich schnell ein großes Unbehagen, die Nähe von Geburts- und Todesjahr ließ mich an Kindergräber denken: Hier also hatte Josée de Chambrun, die Tochter Lavals, ihre geliebten Tiere beerdigt.

    Der Name war wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Ministerpräsident Laval hatte sich – um die Familien nicht zu trennen, wie er später zu seiner Verteidigung vorgab – dafür stark gemacht, daß jüdische Kinder unter sechzehn Jahren zusammen mit ihren Eltern deportiert wurden. Das also hätte ich dem Prüfer bei meiner ersten Abiturprüfung antworten sollen, als ich wie versteinert blieb. Und ich hätte sogar noch den abscheulichen Satz Brasillachs* hinzufügen sollen:
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