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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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Maxime sieht, wie die Schwimmerin das funkelnde Wasser teilt, während sich ihre Silhouette entfernt. Auf halbem Weg unterbricht sie, klettert auf den Brückenpfeiler, winkt ihm zu. Die Luft flimmert um sie, sie breitet die Arme aus, wölbt den Rücken, er sieht, wie die Muskeln ihrer Schenkel beben, bevor sie abspringt und für einen Augenblick frei zu schweben scheint. Beim Anblick des schwarzen Pfeils, der vom weißen Himmel absticht, erwacht sein Begehren wieder. Plötzlich gibt der Schraubstock nach, undzum ersten Mal seit der Ankunft von Louise und Esther weint er.
    Als Tania sich am Ufer hochzieht, versucht er nicht, sich vor ihr zu verstellen, offen zeigt er ihr seinen Schmerz und seine Tränen. Triefend bleibt sie vor ihm stehen. Sie streckt ihre nasse Hand aus, er ergreift sie und vergräbt sein Gesicht darin. Sie tritt näher, er umschlingt ihre Taille und legt seine Wange an ihren Badeanzug. Endlich berührt er Tania. Nachdem er sich in seinen Träumen so oft neben ihrem warmen Körper ausgestreckt hat, spürt er jetzt die eiskalte Haut der Schwimmerin. Die Wassertropfen der Creuse vermischen sich mit seinen Tränen. Sie bleiben eine Weile so stehen, dann lösen sie sich voneinander, immer noch wortlos. Tania legt sich neben ihn, und gemeinsam starren sie in den Himmel. Die Stadt schläft, nur das dumpfe Brummen des Kraftwerks stört die Ruhe. Maxime weiß, daß er nicht mehr widerstehen kann.

    Nach Anbruch der Nacht schleicht er leise in ihr Zimmer, schlüpft unter ihre Decke und legt sich neben die junge Frau, berührt ihre Haut. Der Schmerz überwältigt ihn. Er drückt seinen Mund auf ihren, sie spürt den salzigen Geschmack seiner Tränen, er schmiegt sich an sie, spürt das Spiel seiner Muskeln, das Zucken gegen Tanias Bauch. Er wagt keine Zärtlichkeit, aber er klammert sich an ihren Körper, umschlingt ihn mit Armen und Beinen. Er berauscht sich an ihrem Geruch und fällt in einen traumlosen Schlaf. Mehrere Nächte schlafen sie so eng umschlungen und verjagen die Schatten, von denen sie umstellt sind. Am frühen Morgen kehrt er vorsichtigwie ein Oberschüler in sein Zimmer zurück. Der Verführer ist zu einem zaghaften Jüngling geworden, der Tanias Sanftheit und Zärtlichkeit sucht, sich ihr behutsam nähert und sich damit begnügt, sie zu küssen und ihre Haut zu berühren.

    Eines Abends schließlich läßt er es geschehen und schläft mit ihr. Die Furcht, man könnte sie hören, bremst seinen Eifer. Louise, Esther und Georges sind nur durch dünne Zwischenwände von ihnen getrennt. Maxime hebt und senkt seine Hüften, dringt so tief wie möglich in Tania ein, bis er es nicht mehr aushält und sich die Lippen zerbeißt, um nicht zu schreien. Die Anstrengung, sich zurückzuhalten, verstärkt seine Lust. Er hält die Frau in den Armen, die er seit Jahren begehrt, doch am Rand der Bewußtlosigkeit erscheint plötzlich Hannahs Bild vor seinen Augen. Mit aller Kraft weist er sie von sich, stößt ihr helles Gesicht in die Nacht zurück.

Bis dahin war ich gekommen. Mit Hilfe von Louises Enthüllungen hatte ich diesen Bericht bis zu jener Nacht erstellen können. Einer Nacht, in der ein kleiner Junge und seine Mutter endgültig diese Welt verließen, um in die Stille einzutreten. Diese Nacht besiegelte das Schicksal meiner Eltern und schaffte die Voraussetzung dafür, daß ich einige Jahre nach Simons Tod zur Welt kam. Ich konnte nur unter dieser Bedingung geboren werden: Seine Stärke machte meiner Schwäche Platz, er versank in der Nacht, damit ich das Licht der Welt erblicken konnte. Er oder ich, diese Alternative war vergleichbar mit den nächtlichen Kämpfen Mann gegen Mann, die ich in meinem Zimmer mit einem erfundenen Bruder ausfocht. Weder Simons noch Hannahs Name wurde je wieder ausgesprochen, nur die zurückgelassenen Reisetaschen hinter dem Sessel blieben. Kleider, Gerüche, ein Plüschhund, verwaiste Gegenstände, ein paar Fotos, die man ins Dunkel verbannte, und die Schuldgefühle, deren Last ich trug.

Während der Abendstunden im Wohnzimmer, bei den Mahlzeiten im Eßzimmer ist die Spannung in Saint-Gaultier mit Händen zu greifen, die kleine Hausgemeinschaft beobachtet, ja, belauert die Liebenden. Keiner der Gäste läßt sich von der augenscheinlichen Gleichgültigkeit täuschen, mit der sie einander begegnen. Esther kann sich kaum beherrschen, am liebsten würde sie ihre Mißbilligung hinausschreien, dem Paar ins Gesicht spucken, dessen Umarmungen eine Beleidigung für das Andenken
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