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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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der Verschwundenen sind. In Esthers Augen ist es ein wahres Verbrechen, das sich da Nacht für Nacht wiederholt, das Hannah und Simon mit jedem Mal weiter verbannt. Louise versucht sie zu beruhigen, ist aber selbst hin und her gerissen, zugleich empört über Maximes Verrat und doch geneigt, Nachsicht zu üben. Von Tanias triumphaler Schönheit überwältigt, nimmt sie die Liebesbeziehung als gottgegeben hin, Widerstand zwecklos. Thérèse leidet still, sie hegt wieder ihr altes Mißtrauen gegen Männer. Maxime ist genauso wie alle anderen, das hätte sie sich ja gleich denken können, einer derjenigen, vor denen sie sich immer in acht genommen hat, ein Mann, dem es nur um sein Vergnügen geht. Ihr Instinkt hat sie nicht getäuscht, die Ankunft von Tania bedeutete das Ende einer glücklichen Zeit. Sie ist grob zu ihrem Vater, mit ihrer Pingeligkeit in Geldfragen tyrannisiert sie die Hausgemeinschaft, und so oft wie möglich zieht sie sich in ihr Zimmer zurück, um dem Tagebuch ihre Verbitterung anzuvertrauen. Georges und der Oberst verurteilen das Verhalten der beidenLiebenden streng, betrachten ihre Verbindung allerdings als unvermeidlich, als das einzige Mittel für Maxime, seinen Kummer zu überleben.

    Was hat sich danach zugetragen? Wagten es mein Vater und meine Mutter, die sich in den Augen der anderen schuldig gemacht hatten, innerlich zerrissen von ihrem Begehren, ihre Liebe offen zu zeigen, Hand in Hand am Ufer der Creuse spazierenzugehen, ihre Verbindung vor den Augen der Familie einzugestehen? Mit der Zeit sicherlich, zunächst vielleicht mit winzigen Gesten, allmählich aber doch immer mutiger. Ich fragte mich, ob Esther sich mit meiner Mutter stritt. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie meine Tante, die einen Hang zur Dramatik hatte, ihrer Schwägerin ihre ganze Entrüstung ins Gesicht brüllte, dann vor ihren Tränen kapitulierte, ihr in die Arme fiel und sich ihre Geständnisse anhörte.
    Nach einigen Wochen hatten sich die Gemüter zweifellos beruhigt, und das Leben nahm wieder seinen Lauf, bis das Entsetzliche sich einen Weg durch die Mauer des Friedens bahnte, die Saint-Gaultier schützte.

    Auf den Straßen werden die ersten Gerüchte laut, in Gesprächen von einem Geschäft zum nächsten weitergetragen. Man kann die Augen nicht mehr verschließen, nicht mehr an eine bloße Umsiedlung glauben, jetzt ist von systematischer Vernichtung, von Todeslagern die Rede. Kann Maxime überhaupt noch schlafen, als diese Nachrichten ins Haus des Obersten gelangen und Bilder von den Marschkolonnen, von den Stacheldrahtumzäunungen an die Wände werfen? In den Nächten suchen ihnHannah und Simon wieder heim. Es gibt keinen Anlaß mehr, zu glauben, sie würden auf der anderen Seite der Demarkationslinie gefangengehalten, jetzt muß mit dem Schlimmsten gerechnet werden.

    Die Tage bis zum Kriegsende mußte ich mir selbst ausmalen. Dann herrschte Gewißheit: Hannahs Eltern wurden nach der großen Razzia deportiert, und Robert starb in einem Stalag an Typhus. Auch den großen Jungen mit dem spöttischen Blick fegte die Geschichte hinweg, ein Hindernis weniger auf dem Weg von Maxime und Tania.
    Und schließlich erfuhr man auch, wohin der Zug gefahren war, der Hannah und Simon abtransportierte. Der Ort mußte unbedingt einen Namen bekommen, zum ersten Mal sah man Bilder von dort. Der dunkle Umriß eines Eingangstors vor hellem Himmel, die schwarzen Gleise, die in den Abgrund führen, haben sich für alle Zeiten ins Gedächtnis eingegraben.

Die Familie ist nach Paris zurückgekehrt. Das Schicksal, das Hannah und die Ihren ereilte, hat sie verschont. Tania ist wieder zu Martha gezogen. Maxime war die Vorstellung unerträglich, in der Avenue Gambetta zu schlafen, er hat ein Notbett im ersten Stock des Ladengeschäfts aufgestellt. Die beiden Liebenden haben sich diese Distanz selbst auferlegt, sie wagen nicht mehr, sich zu berühren. Es gelingt ihnen nicht, die Bilder derer zu verdrängen, die nicht mehr da sind, sie können sich nicht an den Orten lieben, die von der Erinnerung an sie erfüllt sind. Sie müssen warten.
    Als Tania von Roberts Tod erfährt, weint sie kaum, er gehört schon zu einer fernen Vergangenheit. Sie denkt sogar daran, daß sie ihm jetzt nicht mehr in die Augen sehen muß. Aber was soll geschehen, wenn Hannah und Simon aus der Verbannung zurückkehren? Gleich nach ihrer Ankunft in Paris sichert Tania Maxime zu, daß sie zurückstehen kann. Sie muß es ihm sagen, und sie will selbst daran glauben.
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