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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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Er hört ihr schweigend zu, nimmt sie fest in die Arme, und sie bemühen sich, alle Gedanken aus ihrem Kopf zu verscheuchen.

    Nach der Befreiung hoffen die Familien noch. In Paris wartet man auf die Rückkehr der Deportierten, Tag für Tag holt man Erkundigungen ein, geht die Listen durch, die in der Halle des Hotels Lutetia angeschlagen werden. Fotos werden geschwenkt, man geht von Gruppe zu Gruppe, stellt Fragen, paßt die Ankunft der Busse ab und sieht zu, wie die gespenstischen Gestalten aussteigen.
    Maxime nimmt mehrmals die Metro bis zur Station Sèvres-Babylone und kehrt bestürzt zurück. Eine Menge verängstigter Menschen ergießt sich in die Empfangsräume, eine Kohorte der Elenden, die im völligen Gegensatz zum Luxus der Räumlichkeiten steht. Schattengestalten trotten über die schweren Teppiche, irren zwischen großen Kanapees und Spiegeln umher, taumeln und halten sich an der Bar fest, an der kurze Zeit zuvor noch deutsche Offiziere ihre Sektkelche hoben und auf den Endsieg anstießen. Jedes Kindergesicht, jedes Paar eingefallener Augen, jedes aschfahle Antlitz läßt Maxime zusammenfahren. Unter den Kleiderfetzen der Frauen glaubt er jedesmal Hannahs abgemagerte Silhouette zu entdecken. Ein stechender Schmerz durchzuckt ihn: der Schmerz einer Hoffnung, unter die sich Angst mischt. Eine Mauer ist entstanden und hat die Stimmen von Hannah und Simon erstickt, Maxime bemüht sich verzweifelt, sich an ihren Klang zu erinnern, doch er hat die glockenhelle Stimme seines Sohnes, das Murmeln seiner Frau vergessen. Vergeblich sucht er in seinem Gedächtnis nach ihrem Lachen, ihren bevorzugten Redewendungen, ihrem Duft: Er hat zu trauern begonnen, Hannah und Simon werden nie mehr zurückkommen.

    Es braucht Zeit, bis Tania und Maxime ein Zusammenleben in Betracht ziehen. Monate vergehen damit, daß Möbel transportiert, Koffer gepackt werden; Gegenstände, die noch an Hannah und Simon erinnern, werden weggestellt, Kleidung mit vertrauten Gerüchen zusammengefaltet, alles wird ausgeräumt. Maxime kann sich nichtdazu durchringen, die Spielsachen seines Sohnes wegzugeben, und stellt sie in den Abstellraum im sechsten Stock des Gebäudes, in dem Tania und er von nun an wohnen. Dort habe ich schließlich Sim entdeckt, als ich meine Mutter in das Zimmer hinaufbegleitete, Jahre bevor ein echter Hund, Echo, ein kleiner schwarzweißer Mischling, den wir am Ufer der Marne aufgegabelt haben, unser Leben teilte.

    Ich komme in diesem Stadtviertel zur Welt, wohne in jener ruhigen Straße. Eines der Zimmer ihrer neuen Wohnung wandeln Tania und Maxime in einen Turnraum um, dort setzen sie ihr Training fort. Sie heiraten, arbeiten zusammen in der Rue du Bourg-l’Abbé, spezialisieren sich auf Sportbekleidung, das Geschäft geht gut. Auf der anderen Seite des Hausflurs eröffnet Louise ihre neue Gesundheitspflege-Praxis. Jedes Wochenende gehen sie zusammen ins Stadion. Sonntag abends treffen sie sich mit dem Rest der Familie zum traditionellen Essen bei Esther und Georges. Die Wunden schmerzen nicht mehr so sehr, nur eine dumpfe Trauer sitzt tief im Innern eines jeden. Man redet nicht mehr über den Krieg, man spricht die Namen der Verschwundenen nicht mehr aus. Kurz nach meiner Geburt erregt Maxime wieder den Unwillen der anderen, als er die Schreibweise unseres Nachnamens ändern läßt. Der Name Grinberg wird von seinem »n« und seinem »g« reingewaschen, zwei Buchstaben, die zu Todesboten geworden waren.

V

Durch Louise konnte ich die Liebesgeschichte meiner schuldigen Eltern rekonstruieren. Ich war fünfzehn Jahre alt, ich wußte, was man mir verheimlicht hatte, und aus Liebe sprach ich ebenfalls nicht darüber. Die Enthüllungen meiner Freundin hatten mich nicht nur stärker gemacht, auch meine Nächte sahen nun anders aus: Jetzt, da ich seinen Namen kannte, kämpfte ich nicht mehr mit meinem Bruder.
    Allmählich löste ich mich von meinen Eltern. Ich nahm es hin, daß ihre Vollkommenheit Risse zeigte. Ich sah sie mit den ersten Anzeichen des Alters kämpfen, während sie sich sonntags auf den Tennisplätzen noch stärker ins Zeug legten. Mein Vater litt darunter mehr als meine Mutter, und manchmal ertappte ich ihn, wie er sich mit angstvollem Blick im Spiegel betrachtete. Eines Abends kam er niedergeschlagen nach Hause: Zum ersten Mal hatte ihm eine junge Frau ihren Sitzplatz in der Metro überlassen.
    Mein Aussehen bedeutete kein Leiden mehr für mich, ich war kräftiger geworden, die Höhlungen meines Körpers
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