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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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zugestimmt hatte.

    Zu wissen, daß sie gleich nach ihrer Ankunft ermordet worden waren, nahm zumindest eine Last von mir. Dieses Datum setzte allen Mutmaßungen ein Ende. Ich mußte mir nicht mehr die Bilder eines jahrelangen Lagerlebens, ihres Leidensweges und ihrer Nächte vergegenwärtigen.
    Mein Vater wußte nichts von dem, was ich herausgefunden hatte. Wie hatte er sich in all den Jahren die Lagerhaft von Hannah und Simon vorgestellt? Was sah er heute noch, wenn sein Blick abwesend wurde, wenn ernicht einschlafen konnte? Die Wende war für mich verwirrend: Nachdem mir das Drama so lange verschwiegen worden war, wußte ich plötzlich mehr darüber als mein Vater. Sollte ich ihn im ungewissen lassen? Lange Zeit stellte ich mir diese Frage, während ich auf eine Gelegenheit wartete, die das Leben mir bestimmt bieten würde.
    Im Jahr darauf bestand ich das Abitur mit Auszeichnung und begann ein Universitätsstudium. Als ich während meiner Philosophie-Vorlesungen auf die Psychoanalyse stieß, traf ich für mich eine Entscheidung. Wenn man mich später fragte, aus welchen Gründen ich Psychoanalytiker werden wollte, hatte ich sofort eine Antwort parat: Louise, die so gut zuhören konnte, die mir die Türen geöffnet hatte, ermöglichte es mir, die Schatten zu vertreiben, sie verschaffte mir den Zugang zu meiner Geschichte. Ich wußte, welchen Platz ich darin einnahm. Von der Bürde befreit, die auf meinen Schultern lastete, hatte ich daraus eine Stärke gemacht, und dasselbe wollte ich denen ermöglichen, die zu mir kommen würden. Da wußte ich noch nicht, daß ich mit meinem Vater beginnen würde.

Eines Abends, als ich von der Universität heimkam, fand ich meine Mutter in Tränen aufgelöst. Echo war überfahren worden. Sie hatten das kleine Tier nach Hause gebracht und in den Turnraum gelegt. Mit leiser Stimme sagte mir meine Mutter, daß mein Vater seit ihrer Rückkehr das Zimmer nicht mehr verlassen habe, sie wisse nicht, ob er schlafe oder lese, und sie wage nicht, ihn zu stören. Er habe nichts essen wollen und kein Wort gesprochen, bestimmt fühle er sich schuldig an Echos Tod. Meine Eltern waren mit dem Hund im Park spazierengegangen, und mein Vater hatte es nicht für nötig erachtet, ihn zur Überquerung einer der breiten Straßen anzuleinen. Meine Mutter fügte noch hinzu, daß sie Maxime nie zuvor so erschüttert gesehen habe. Mein Vater hatte den Tod seines Sohnes und seiner Frau überwunden, doch der Tod seines Hundes ließ ihn zusammenbrechen.

    Ich betrat den Turnraum und beugte mich über Echo, der mit blutiger Schnauze auf der Seite lag. Mein Gesicht spiegelte sich in seinen weit aufgerissenen Augen. Ich bot meiner Mutter an, ihn zum Tierarzt zu bringen, der würde schon wissen, was mit den sterblichen Überresten zu tun wäre. Vorsichtig nahm ich Echo das Halsband ab, streichelte ein letztes Mal sein Fell und hüllte ihn dann in seine Hundedecke ein.

    Eine Stunde später war ich zurück. Ich ging ins Schlafzimmer, wo mein Vater, den Kopf zwischen denHänden, auf dem Bettrand saß. Er hatte die Übergardinen zugezogen, das Zimmer wurde nur von seiner Nachttischlampe beleuchtet. Ich setzte mich neben ihn und sagte ihm, wie traurig ich sei. Ohne den Kopf zu heben, antwortete er mit tonloser Stimme, Echos Tod sei seine Schuld. Ich hörte mich sagen, daß er recht habe, daß er dafür verantwortlich sei, aber nur dafür. Der Satz war mir einfach so entschlüpft, ohne daß ich zuvor darüber nachgedacht hatte. Er richtete sich auf, unsere Schultern berührten sich, und während ich aus dem Fenster starrte, spürte ich seinen fragenden Blick auf mir liegen. Ich fügte hinzu, daß ich stolz auf das sei, was ich vererbt bekommen hätte, stolz, daß sie beide mir diese Schwierigkeit, diese immer noch offene Frage vermacht hätten, denn dies habe mich stärker gemacht. Auf meinen Namen sei ich so stolz, daß ich mir wünschen würde, zu seiner ursprünglichen Schreibweise zurückzukehren. Auch das rutschte mir so heraus, mein Vater seufzte, als hätte ich jahrelange Anstrengungen zunichte gemacht.
    Ich holte einmal tief Luft und fuhr dann fort. Ich sprach Hannahs und Simons Namen aus. Ich überwand meine Angst, ihn zu verletzen, und erzählte ihm alles, was ich in Erfahrung gebracht hatte, ich verschwieg nur das selbstmörderische Verhalten Hannahs. Ich spürte, wie sich alle seine Muskeln anspannten, wie er mit den Händen seine Knie umklammerte. Ich sah, wie die Haut über seinen Gelenken weiß wurde,
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