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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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Frau in Kittel und Pantoffeln zugesehen, Händen, die Wunderwerke an Eleganz schufen. Beeinflußt von den Kreationen ihrer Mutter, wurden ihre Kinderzeichnungen immer raffinierter, dann füllte sie ganze Hefte mit ihren Zeichnungen, erfand Silhouetten mit breiten Schultern und betont schmaler Taille. Mit ihrem sicheren Strich fand sie gleich nach dem Volksschulabschluß Beachtung und wurde an einer Schule für Modezeichner angenommen.

    Die beiden Frauen leben allein. Martha schneidet Tag und Nacht Stoffe zu, um ihrer Tochter ein Leben in Wohlstand zu ermöglichen. Tanias Vater hat sie verlassen. Auf ihrem Nachttisch steht ein Porträt von ihm,auf dem er dank der Kunst des Fotografen als düsterer Virtuose mit dem Bogen in der Hand und knochigem Gesicht dargestellt ist. Er hat ihr einen mustergültigen, englisch klingenden Namen vermacht. Marthas Name hingegen trägt die Spur ihrer eingewanderten Vorfahren, den Beiklang einer russischen Provinz mit unbestimmten Grenzen, Litauen, das Tania nur mit großer Mühe auf einer Landkarte finden würde.

    Als arbeitsloser Geiger lebte André von kurzfristigen Engagements, spielte in den russischen Cabarets von Paris Lieder wie Otschi Tschornije (Schwarze Augen) und Kalinka und begleitete Varietésänger in namenlosen Music-Halls. Schon als sie noch ein Kleinkind war, versuchte er ihr das Geigespielen beizubringen, und diese Lektionen sind ihr in furchtbarer Erinnerung geblieben. Um seinem väterlichen Ehrgeiz zu genügen, hätte sie eines jener Wunderkinder sein müssen, deren Fotos die Titelseiten der Zeitungen schmückten, aber sie hatte seinem Instrument nur unerträglich schrille Töne entlocken können, die ihm fast das Trommelfell zerrissen und Wutanfälle auslösten.

    Eines Tages verschwand André ohne Vorankündigung, und sie haben ihn nie wiedergesehen. Die letzten Lebenszeichen von ihm, auf die Rückseite von Postkarten gekritzelt, kamen aus Afrika. Was hatte er dort zu suchen? Tania stellte sich ihren Vater in einem Dorf im Busch vor, als Geigenlehrer für kleine Eingeborene, die weitaus begabter waren als sie.

Aus dieser Kindheit ist ihr die Sehnsucht nach einer künstlerischen Laufbahn geblieben. Tania weiß, daß sie schön ist, doch weder Komplimente noch die vielsagenden Blicke der Passanten geben ihr genügend Selbstsicherheit. Als Schülerin litt sie darunter, nicht brillieren zu können: Außer ihren Zeichnungen wurden nur ihre körperlichen Fähigkeiten beachtet. Eine Freundin, die im Club Alsacienne trainierte, lud Tania ein, sie zu begleiten, und sehr schnell fiel sie dort auf.

Maxime ist Tanias Schönheit aufgefallen, er will sie erobern. Tania ist ihrerseits von dem jungen Mann bezaubert: Sie paßt ihn ab, sieht ihm hinterher, geht manchmal in die Turnhalle, um bei seinen Kämpfen zuzuschauen. Der Anblick Maximes, der im Ringeranzug seine Gegner mit den Beinen in die Zange nimmt, läßt sie nicht kalt.

    In dem schwarzen Badeanzug, der ihre Körperformen betont, und mit der weißen Badekappe, unter der ihre Gesichtszüge besonders klar hervortreten, sieht Tania blendend aus. Wenn sie sich mit einigen federnden Sprüngen in die Höhe katapultiert, teilt sie den Himmel, dann rollt sie sich ein und zeichnet vollkommene Figuren in die Luft, bevor sie gestreckt ins Wasser eintaucht, das sich ohne einen Spritzer über ihr schließt. Maxime versäumt es nie, sich an den Rand des Sprungbeckens zu setzen, wenn die Frauenmannschaft trainiert.
    Er ist auf leichte Eroberungen aus. Er wirft ein Auge auf ein zartes Beinpaar, auf ein in der Sonne schimmerndes Dekolleté. Ein Lächeln, ein kurzer, eindringlicher Blick, und die junge Beute steigt in sein Cabriolet ein. Er führt sie zum Essen aus, sieht ihr verheißungsvoll in die Augen. Schnell entflammt, angezogen von einem Detail, verwechselt er Begehren mit Liebe, doch nach der Begegnung ist der Zauber rasch verblaßt.
    Mit Tania ist es etwas anderes, das weiß er genau. Im Gegensatz zu sonst entschließt er sich, nichts zu übereilen. Mit seinem geübten Blick macht er an jedem Körper,so vielversprechend er auch erscheinen mag, unerbittlich den Schwachpunkt aus. Ein Storchenbein, ein zu breiter Fuß, eine kaum wahrnehmbare Erschlaffung des Bauchs, und schon haben das wohlgerundete Becken oder der Busen ihren Reiz verloren. Nichts dergleichen bei Tania: Alles an ihrem Körper entspricht seinem Wunschbild.

    Im Laufe der Zeit offenbaren sich ihm die Verletzlichkeit und die Zweifel der scheinbar so selbstsicheren
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