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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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packte mich die Wut, und ich ging ihm an die Gurgel. Zurück in deine Nacht, feindlicher Bruder, falscher Bruder, Schattenbruder! Ich streckte meine Finger in seine Augen und drückte mit aller Kraft gegen sein Gesicht, um es im Treibsand des Kopfkissens zu versenken.

    Er lachte, und wir wälzten uns unter der Bettdecke, erfanden in der Dunkelheit unseres Kinderzimmers die Zirkusspiele neu. Verstört von der Berührung, stellte ich mir vor, wie zart seine Haut war.

Meine Knochen wuchsen in die Länge, ich wurde immer magerer. Besorgt rief der Schularzt meine Eltern zu sich, um sich zu vergewissern, daß ich genügend zu essen bekam. Das Gespräch war verletzend für sie. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich ihnen Schande bereitete, aber dadurch sah ich noch mehr zu ihnen auf: Ich haßte meinen Körper, und meine Bewunderung für ihre Körper war grenzenlos. Ich entdeckte eine neue Form, mich meines Verliererdaseins zu erfreuen. Der Mangel an Schlaf höhlte meine Wangen mit jedem Tag ein wenig mehr aus, meine kränkliche Erscheinung geriet noch mehr in Gegensatz zur strahlenden Gesundheit meiner Eltern.

    Mein aschfahles Gesicht, die bläulichen Augenringe verrieten das durch einsame Praktiken entkräftete Kind. Wenn ich mich in mein Zimmer einschloß, nahm ich immer das Bild eines Körpers, die Wärme eines Körpers mit. Entweder klammerte ich mich mit aller Kraft an meinen Bruder, oder ich gab mich dem kurz aufblitzenden Bild hin, das mich zuvor auf dem Schulhof geblendet hatte. In der großen Pause suchte ich Zuflucht am Rand des Karrees, das den Mädchen vorbehalten war. Fern von den Ballspielen und dem Geschrei, das im Jungenbereich ertönte, spielten sie dort Himmel und Hölle oder Seilspringen. Ich saß in der Nähe ihrer klaren Stimmen auf dem Asphaltboden und ließ mich von ihrem Lachen und ihren Abzählversen davontragen, und wenn sie hochsprangen, erhaschte ich einen Blick auf die kleinen weißen Schlüpfer unter ihren Röcken.

Ich war unendlich neugierig auf Körper. Die schützende Kleiderhülle konnte mir schon bald nichts mehr verbergen, meine Augen funktionierten wie jene magischen Brillen, deren Qualitäten in einer Zeitschriftenwerbung, die ich gesehen hatte, gerühmt und mit denen von Röntgenstrahlen verglichen wurden. Ihrer einheitlichen städtischen Kleidung entledigt, offenbarten die Passanten sowohl ihre Vorzüge als auch ihre Schwächen. Auf den ersten Blick erfaßte ich ein krummes Bein, eine hoch sitzende Brust, einen vorstehenden Bauch. Mein geübter Blick sorgte für eine reiche Ausbeute an Bildern, eine regelrechte anatomische Sammlung, in der ich blätterte, sobald die Nacht anbrach.

    Wenn in der Rue du Bourg-l’Abbé Hochbetrieb herrschte, nutzte ich die Zeit, um die Lagerräume zu erforschen. Das Lager befand sich im Erdgeschoß eines baufälligen Gebäudes, über eine Treppe gelangte man zu den Zimmern einer ehemaligen Wohnung, dunkle Räume, die Wände mit Warenregalen vollgestellt, von denen der Geruch nach Kartonagen und Appreturmitteln ausging. Ich ließ meinen Blick über die Etiketten schweifen, als ob ich die Regalfächer einer Bibliothek auf der Suche nach einem bestimmten Buch durchginge: Trikots, Turnhosen, Gymnastikhosen. Ich interessierte mich für Konfektionsgrößen, verglich die Größen für Jungen, Herren, Mädchen, Damen, und jede dieser Ziffern rief mir eine neue Gestalt in Erinnerung, der ich sogleich diese Sportsachen anzog. Wenn ich sicher war, daß mich niemand stören würde, hob ich mit pochendem Herz die Deckel der Schachteln an und holte ihren Inhalt heraus. Ichtauchte mein Gesicht in die Kleidungsstücke, dann breitete ich sie auf der Theke aus und preßte meinen Unterleib gegen ihren Eichenrand, um nach Belieben die Gestalt einer Turnerin, einer Basketballspielerin oder eines Langstreckenläufers vor meinen Augen erstehen zu lassen.

Neben dem Ladengeschäft befand sich im Erdgeschoß des Gebäudes auch die Praxis von Mademoiselle Louise. Sie war in zwei weiß gestrichenen Räumen untergebracht: ein Büro und ein Behandlungszimmer mit Linoleumfußboden. Einige bleichsüchtige Pflanzen schmückten ein Schaufenster, auf dem in Emailbuchstaben folgende Dienste angeboten wurden: Häusliche Pflege, Injektionen, Massagen. Louise gehörte zur Familie, ich habe sie von klein auf gekannt. An ruhigen Tagen kam sie, stützte die Ellbogen an der Kasse auf und hielt ein Schwätzchen. Auf ihrem mit einem weißen Laken bedeckten Tisch massierte sie regelmäßig meine
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