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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter
Autoren: Kristin Hannah
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reglos und mit verschränkten Händen im Zentrum dieser Szenerie saß.
    Als Kind hatte ihr das Angst gemacht – die Aura der Einsamkeit, die ihre Mutter umgab –, doch mit zunehmendem Alter wurde es ihr erst peinlich und dann zum Ärgernis. Eine Frau in ihrem Alter sollte nicht ganz allein in der Kälte sitzen und ins Nichts starren. Ihre Mutter behauptete zwar, es läge an ihren ruinierten Augen, aber das glaubte Meredith nicht. Zugegeben, ihre Mutter konnte keine Farben, sondern nur noch Schwarz, Weiß und Grautöne sehen, doch das wäre für Meredith nie, auch nicht als Kind, ein ausreichender Grund gewesen, einfach ins Leere zu starren.
    Jetzt öffnete sie die Tür und trat in die Kälte. Ihre Stiefel versanken knöcheltief im Schnee; hier und da knirschten vereiste Stellen unter ihren Füßen, und mehr als einmal wäre sie fast ausgerutscht. »Was machst du hier draußen, Mom?«, fragte sie, als sie zu ihr trat. »Du holst dir noch eine Lungenentzündung.«
    »Für eine Lungenentzündung ist es längst nicht kalt genug. Wir sind ja gerade mal unter dem Gefrierpunkt.«
    Meredith verdrehte die Augen. Diese absurde Bemerkung war typisch für ihre Mutter. »Ich habe nur eine Stunde Mittagspause, also kommst du jetzt besser rein.« Sie zuckte zusammen, weil ihre Stimme im sanft fallenden Schnee so scharf klang, und wünschte, sie hätte die Vokale mehr gedehnt und ihre Stimme gedämpft. Wie schaffte es ihre Mutter nur, ihre schlechtesten Seiten zum Vorschein zu bringen? »Hast du gewusst, dass Dad mich zum Mittagessen eingeladen hat?«
    »Natürlich«, antwortete sie, aber Meredith hörte, dass sie log.
    Ihre Mutter erhob sich in einer einzigen, fließenden Bewegung vom Stuhl, wie eine alte Göttin, die es gewohnt ist, ehrfürchtig angebetet zu werden. Ihr Gesicht war außergewöhnlich faltenfrei und glatt, die Haut makellos und fast durchscheinend. Ihre Wangen- und Kieferknochen hatten bei anderen Frauen stets Neid erweckt, aber ihre eigentliche Schönheit verdankte sie ihren Augen. Tiefliegend, leuchtend aquamarin mit goldenen Sprenkeln und gesäumt von dichten Wimpern. Meredith war überzeugt, dass niemand, der diese Augen einmal gesehen hatte, sie je vergessen konnte. Es war Ironie des Schicksals, dass Augen mit einer derart bemerkenswerten Farbe keine Farben sehen konnten.
    Meredith fasste ihre Mutter am Ellbogen und führte sie von der Bank fort. Erst da, auf dem Weg zur Tür, bemerkte sie, dass die Hände ihrer Mutter bloß und blau angelaufen waren.
    »Meine Güte! Deine Hände sind ja schon ganz blau. Bei dieser Kälte hättest du Handschuhe –«
    »Du weißt doch gar nicht, was Kälte ist.«
    »Wie du meinst, Mom.« Eilends führte Meredith ihre Mutter die Stufen hinauf und in die Wärme des Hauses. »Vielleicht solltest du ein heißes Bad nehmen, um dich aufzuwärmen.«
    »Vielen Dank, aber ich möchte mich nicht aufwärmen. Wir haben den vierzehnten Dezember.«
    »Schön«, meinte Meredith und sah zu, wie ihre Mutter fröstelnd zum Herd ging und die Suppe umrührte. Dabei glitt die zerschlissene graue Wolldecke von ihren Schultern zu Boden und blieb unbeachtet liegen.
    Meredith deckte den Tisch, und die Geräusche schufen zumindest für einige kostbare Minuten die Illusion einer Beziehung.
    »Meine Mädchen«, sagte ihr Vater, als er in die Küche kam. Er wirkte blass und gebrechlich, seine einst breiten Schultern waren durch reinen Gewichtsverlust schmaler geworden. Er trat zu ihnen, legte jeder von ihnen eine Hand auf die Schulter und brachte sie so zusammen. »Ich finde es schön, wenn wir gemeinsam zu Mittag essen.«
    »Ja, ich auch«, sagte die Mutter mit ihrem abgehackten Akzent und lächelte angespannt.
    »Ich auch«, erwiderte Meredith.
    »Schön, schön«, sagte der Vater und wandte sich zum Tisch.
    Die Mutter trug ein Blech herbei, auf dem noch warmes Maisbrot mit Fetakäse lag, legte auf jeden Teller ein Stück und brachte dann die Teller mit der Suppe.
    »Ich habe heute Morgen einen Rundgang durch die Plantage gemacht«, erzählte der Vater.
    Meredith nickte und nahm neben ihm Platz. »Dann hast du wohl auch die Rückseite von Feld A bemerkt?«
    »So ist es. Dieser Hang wird uns Probleme machen.«
    »Ich habe Ed und Amanda darauf angesetzt. Mach dir keine Sorgen um die Ernte.«
    »Mach ich mir auch nicht. Eigentlich hab ich mir was anderes überlegt.«
    Sie kostete vorsichtig von der Suppe: Sie war sämig und köstlich. Selbstgemachte Lammfleischklößchen in einer pikanten Safranbrühe
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