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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter
Autoren: Kristin Hannah
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und fing an auszustrahlen. Dennoch bedachte sie ihre Angestellten mit einem Lächeln, als sie das Büro verließ und durch das Lagerhaus marschierte.
    Nicht mal zehn Minuten später parkte sie vor der Garage ihrer Eltern.
    Mit seiner turmbewehrten zweistöckigen Frontveranda und dem raffinierten Schnitzwerk wirkte das Haus, als stamme es direkt aus einem russischen Märchen, vor allem zu dieser Jahreszeit, da Dachsims und Geländer im Licht unzähliger Lämpchen erstrahlten. Das Dach aus poliertem Kupfer war zwar an diesem grauen Wintertag matt, doch wenn die Sonne schien, schimmerte es wie flüssiges Gold. Das Haus war von hohen, schlanken Pappeln umgeben und stand auf einer sanften Anhöhe, von der aus man das ganze Tal überblicken konnte, so dass es kaum verwunderlich war, dass immer wieder Touristen dort haltmachten, um es zu fotografieren.
    Dieses fast schon absurd fehl am Platz wirkende Haus verdankten sie ihrer Mutter. Eine russische Datscha, ein Sommerhaus mitten im Staat Washington. Selbst der Name ihrer Apfelplantage war absurd: Belije Notschi.
    Weiße Nächte , in der Tat: Die Nächte hier waren so schwarz wie frischer Asphalt.
    Allerdings hatte ihre Mutter kaum Auge und Ohr für ihre Umgebung. Sie ging immer ihre eigenen Wege. Was Anja Whitson auch wünschte, ihr Mann gewährte es ihr, und offenbar hatte sie sich ein Märchenschloss und eine Obstplantage mit einem unaussprechlichen russischen Namen gewünscht.
    Meredith klopfte und ging ins Haus. Die Küche war leer; auf dem Herd köchelte ein großer Topf Suppe.
    Im Wohnzimmer fiel das Licht durch die Fenster des zweistöckigen runden Erkers an der Nordwand – das war der berühmte Turm des Hauses. Der Holzboden schimmerte von dem Bienenwachs, auf den ihre Mom bestand, obwohl die Dielen damit zur Rutschbahn wurden, wenn man es wagte, nur auf Strümpfen zu laufen. Ein riesiger steinerner Kamin nahm die mittlere Wand ein, darum drängten sich antike Sofas und Sessel mit dicken Kissen. Über dem Kamin prangte ein Ölgemälde von einer russischen Troika: einer romantischen Kutsche, die von gleichfarbigen Pferden durch eine Schneelandschaft gezogen wurde. Doktor Schiwago in Reinkultur. Links davon sah man Dutzende von Bildern mit russischen Kirchen, und darunter befand sich der »Altar« ihrer Mutter, auf dem mehrere antike Ikonen und eine einzelne, ewig brennende Kerze standen.
    Meredith fand ihren Vater an seinem Lieblingsplatz im hinteren Teil des Zimmers, neben dem reichgeschmückten Weihnachtsbaum. Er lag ausgestreckt auf den burgunderfarbenen Mohairpolstern der Ottomane und las. Sein Haar – das, was ihm mit fünfundachtzig davon geblieben war – säumte in weißen Büscheln seinen rosa Schädel. Zu viele Jahre in der Sonne hatten seine Haut mit Flecken und Falten versehen. Er hatte einen Blick wie ein Basset, selbst wenn er lächelte, doch die traurige Miene täuschte niemanden. Evan Whitson wurde von allen geliebt. Man konnte ihn nur lieben.
    Bei ihrem Eintreten hellte sich seine Miene auf. Er streckte die Arme aus und umfasste mit beiden Händen ihre Hand, bevor er sie wieder losließ. »Deine Mom wird sich freuen, dich zu sehen.«
    Meredith lächelte. Das war ihr altes Spiel. Ihr Vater tat so, als liebte ihre Mom Meredith, und Meredith tat so, als glaubte sie ihm. »Schön. Ist sie oben?«
    »Ich konnte sie heute nicht davon abbringen, in den Garten zu gehen.«
    Das überraschte Meredith nicht. »Ich hole sie.«
    Sie ließ ihren Vater im Wohnzimmer und ging durch die Küche ins Esszimmer. Durch die Flügeltür sah sie in der Ferne eine schneebedeckte Ebene mit unzähligen Reihen kahler Apfelbäume. Näher zum Haus jedoch, unter den eiszapfenbewehrten Ästen einer fünfzig Jahre alten Magnolie lag ein kleiner, rechteckiger Hausgarten, der von einem antiken schmiedeeisernen Zaun eingefasst war. Sein reichverziertes Tor bot Halt für die braunen Weinranken, die es im Sommer üppig mit grünen Blättern und weißen Blüten schmückten. Jetzt jedoch glitzerte es von Raureif.
    Und da saß sie: ihre über achtzig Jahre alte Mutter, eingehüllt in Decken, auf der schwarzen Bank ihres sogenannten Wintergartens. Es fing sacht an zu schneien; winzige Schneeflocken verwischten die Szenerie zu einem impressionistischen Gemälde, in dem alles flüchtig und substanzlos wirkte. Schnee bedeckte die beschnittenen Büsche und ein einzelnes Vogelbad und verlieh dem Garten eine seltsam entrückte Atmosphäre. Meredith überraschte es nicht, dass ihre Mutter
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