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Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss

Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss

Titel: Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss
Autoren: Joe R. Lansdale
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ein. Eben noch war der Himmel strahlend blau gewesen, und im nächsten Moment türmten sich Wolken auf, und es fing an zu regnen, sanft und gleichmäßig. Die Erde verströmte diesen süßlichen Duft, bei dem man sofort Lust bekam, einen Baum zu pflanzen oder eine Sünde zu begehen.
    Ich wusste, dass ich mit dem, was ich da trieb, rasch fertig werden musste, weil Mom bestimmt nicht wollte, dass ich im Regen draußen blieb, und außerdem war bald Mittagszeit.
    Ich erwägte kurz, das Schloss mit der Schaufel abzuschlagen, zögerte jedoch. Ich befürchtete, dass ich damit nur die Schaufel kaputtmachen würde.
    Also beschloss ich, ein besser geeignetes Werkzeug aus dem Schuppen zu holen. Aber als ich mit dem Kästchen vor dem Schuppen stand, hörte ich, wie Mom mich zum Essen rief.
    Ich stellte die Kiste in ein Regal, schob einen ölverschmierten Pappkarton voller Sicherungen und Schalter davor und ging mir die Hände waschen.
    Auch wenn es mir in diesem Augenblick unvorstellbar schien, ließ mich das, was dann beim Mittagessen geschah, die Kiste tatsächlich für eine ganze Weile vergessen.
     
    Wahrscheinlich hätte Daddy einen günstigeren Zeitpunkt wählen können, um Callie zur Rede zu stellen, und ich vermute, dass er das auch getan hätte, wenn er nicht eine derart schockierende Entdeckung gemacht hätte. Mein Vater war nicht so wie die Väter, die man in den 50ern im Fernsehen sah, ruhig und überlegt und voller Lebensweisheit.
    Wir saßen gerade am Tisch und warteten auf ihn, vor uns die Schüsseln mit Brathähnchen, Kartoffelpüree und Soße, als er hereinkam und etwas mit einer Pinzette hochhielt.
    Ich dachte, es wäre ein Luftballon. Es baumelte schlaff von der Pinzette herunter, war oben mit einem Knoten zusammengebunden und mit irgendetwas gefüllt. Daddys Hand zitterte.
    Er schaute Caldonia an und sagte: »Das habe ich in deinem Zimmer gefunden.«
    Caldonia wurde so rot wie der Mantel des Weihnachtsmannes und rutschte tiefer in ihren Stuhl. Sogar ihr Pferdeschwanz schien dahinzuwelken. »Das kann doch gar nicht ...«, setzte sie an.
    Aber es konnte.
    Später erfuhren wir, dass Dad in Callies Zimmer gegangen war, um wegen des Regens das Fenster zu schließen, und da hatte er entdeckt, was er nun mit der Pinzette hochhielt. Aber zu dem Zeitpunkt wusste ich lediglich, dass ein sehr aufgebrachter Mann am Tisch stand und einen seltsamen Ballon von der Pinzette baumeln ließ.
    »Du bist erst sechzehn«, sagte er. »Noch nicht verheiratet.«
    »O Daddy«, rief Callie, und so schnell wie der Rote Blitz sprang sie vom Stuhl und rannte in ihr Zimmer.
    Dad, der immer noch die Pinzette mit dem Ding in Händen hielt, schaute Mom an, die sehr langsam aufstand, ihren Stuhl an den Tisch schob und mit einem Schluchzer das Zimmer verließ. Aus dem Flur hörte ich sie weinen, von Callies lautem Heulen übertönt.
    Daddy sah mich an und sagte: »Ich bring das mal weg.«
    Ohne zu wissen, was er da entsorgen wollte oder was eigentlich vorgefallen war, nickte ich bloß, und als er hinausging, blieb ich verdutzt sitzen. Irgendwann kam er zurück. Er setzte sich ans Kopfende des Tisches und starrte ins Leere. Schließlich fiel ihm auf, dass ich auch noch da war. »Iss nur, Stanley«, sagte er.
    Ich füllte meinen Teller und haute rein. Ich war neugierig, was los war, aber Hunger hatte ich trotzdem. Gerade hatte ich mein zweites Stück Hähnchen verzehrt, als Mom wieder hereinkam, Platz nahm und sich umständlich die Serviette auf den Schoß legte.
    »Hast du mit ihr geredet, Gal?«, fragte Daddy.
    Moms Stimme hatte sich noch nicht erholt. »Nur kurz. Ich werd noch mit ihr reden.«
    »Gut. Gut.«
    Sie sah hoch zu mir, lächelte schwach und sagte: »Callie wird nicht mit uns essen. Reichst du mir bitte das Hähnchen, Stanley?«

3
     
    Es war Sonntag, und das Autokino war geschlossen. Damals nahmen Christen den Feiertag ernst, und kein seriöses Geschäft hatte sonntags auf. Einige Christen meinten, der Samstag sei der wahre Tag des Herrn, aber nach dem Gesetz war es der Sonntag.
    Jahrelang galt in Texas das sogenannte Blue Law , das besagte, dass am Sonntag bestimmte Dinge nicht gekauft werden konnten. Alkoholische Getränke fielen beispielsweise darunter. Oder man durfte einen Hammer kaufen, aber keine Nägel; einen Bohrer, aber keine Bohraufsätze. Nichts, was dazu führen konnte, dass man eine Arbeit erfolgreich abschloss. Wenn man bei einer schweißtreibenden Beschäftigung gesehen wurde, schauten die Leute einen an, als hätte
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