Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter
Autoren: Guillaume Musso
Vom Netzwerk:
hoffen, die einen Teil ihres Familienlebens und ihrer Freizeit opferten. Jeder Mandant der Anwaltskanzlei war mehrere zehn Millionen Dollar wert, was für die Anwälte bedeutete, rund um die Uhr verfügbar sein zu müssen. Das war die Spielregel, der Preis, der zu zahlen war, um am Hof der Großen seinen Platz zu behaupten. Und Nathan hatte ihn akzeptiert. Dafür verdiente er jetzt 45   000   Dollar im Monat, die übrigen Privilegien nicht mitgerechnet. Immerhin bekam er als Teilhaber zusätzlich einen Jahresbonus von etwa einer halben Million Dollar. Zum ersten Mal hatte sein Bankkonto die Grenze von einer Million überschritten. Und das war nur der Anfang.
    Doch sein Privatleben hatte sich anders entwickelt als seine berufliche Karriere. Diese letzten Jahre hatten seine Ehe zerstört. Die Kanzlei war immer mehr zu seinem Lebensinhalt geworden. Bis er nicht mal mehr die Zeit fand, mit der Familie zu frühstücken oder die Hausaufgaben seiner Tochter durchzusehen. Als er das Ausmaß der Schäden erkannt hatte, war es zu spät, das Ruder herumzuwerfen, und vor ein paar Monaten war er geschieden worden. Sicher, er war nicht der einzige Geschiedene – mehr als die Hälfte seiner Kollegen in der Kanzlei lebte von ihren Frauen getrennt –, doch das war kein Trost.
    Nathan machte sich große Sorgen um Bonnie, weil die Ereignisse sie sehr mitgenommen hatten. Obwohl sie bereits sieben war, machte sie gelegentlich ins Bett und litt – laut ihrer Mutter – unter häufigen Angstattacken. Nathan rief sie jeden Abend an, aber er wäre gern in ihrer Nähe gewesen. Nein , dachte er, als er sich auf das Sofa setzte, ein Mann, der abends allein einschläft und seit drei Monaten seine Tochter nicht gesehen hat, der hat es im Leben nicht weit gebracht, auch wenn er Millionär ist.
    Nathan zog den Ehering, den er immer noch trug, vom Ringfinger und las auf der Innenseite den Vers aus dem Hohelied Salomos, den Mallory ihm zur Hochzeit hatte eingravieren lassen:
    Stark wie der Tod ist die Liebe.
    Er kannte die Fortsetzung auswendig: Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen, auch Ströme schwemmen sie nicht weg. Alles Blödsinn! Sentimentaler Kitsch für verliebte Teenager. Die Liebe ist nicht dieses absolute Ding, das die Zeit überdauert und Prüfungen widersteht.
    Dennoch hatte er lange geglaubt, seine Ehe sei etwas Außergewöhnliches, eine magische, irrationale Dimension, die in der Kindheit wurzelte. Mallory und er kannten sich seit ihrem sechsten Lebensjahr. Von Anfang an spann sich zwischen ihnen eine Art unsichtbarer Faden, als ob das Schicksal sie angesichts der Schwierigkeiten des Lebens zu natürlichen Verbündeten hätte machen wollen.
    Er betrachtete die eingerahmten Fotografien auf der Kommode, die seine Ex-Frau zeigten. Er schaute lange auf das neueste Foto, das er sich mit Bonnies Hilfe besorgt hatte.
    Sicher, die Blässe in Mallorys Gesicht zeugte von der schweren Zeit, die mit ihrer Trennung verbunden war, aber sie veränderte nicht ihre langen Wimpern, ihre zarte Nase und ihre weißen Zähne. An dem Tag, an dem das Foto aufgenommen worden war, bei einem Spaziergang am Silver Strand Beach, am Strand mit den Silbermuscheln, hatte sie die Haare zu Zöpfen geflochten, hochgesteckt und mit einem Schildpattkamm befestigt. Mit der kleinen Nickelbrille erinnerte sie an Nicole Kidman in Eyes Wide Shut, auch wenn Mallory diesen Vergleich nicht mochte. Er musste unwillkürlich lächeln, denn sie trug einen seiner ewigen Patchwork-Pullis, die sie selbst strickte und in denen er schick und zugleich unbekümmert wirkte.
    Sie hatte in Umweltforschung promoviert, an der Universität gelehrt, doch nachdem sie in das alte Haus ihrer Großmutter in die Nähe von San Diego gezogen war, gab sie den Unterricht auf, um sich nur noch verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen zu widmen. Von zu Hause aus betreute sie die Webseite einer regierungsunabhängigen Organisation, sie malte Aquarelle und stellte kleine, mit Muscheln verzierte Möbel her, die sie im Sommer an Touristen verkaufte, wenn sie in Nantucket Urlaub machte. Geld oder gesellschaftliches Ansehen waren für Mallory niemals wichtig gewesen. Sie sagte gern, dass ein Spaziergang im Wald oder am Strand keinen Dollar kostete, doch Nathan konnte diese simplifizierenden Anschauungen ganz und gar nicht teilen.
    Das war sehr einfach, wenn es einem nie an etwas gefehlt hat!
    Mallory stammte aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie. Ihr Vater war der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher