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Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter
Autoren: Guillaume Musso
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Himmel verdunkelten, und dann diese riesige Wolke aus Qualm und Staub, nachdem die Türme eingestürzt waren. Zum ersten Mal waren ihm Manhattan und seine Wolkenkratzer klein, verwundbar und vergänglich erschienen.
    Wie die meisten seiner Kollegen hatte er versucht, den Albtraum, den sie damals erlebt hatten, nicht endlos zu träumen. Das Leben war weitergegangen. Business as usual. Dennoch, sagen die Leute, die hier leben, ist New York nie wieder New York geworden.
    Ich schaffe es wirklich nicht.
    Er sortierte dennoch einige Dossiers, die er in seinem Aktenkoffer verstaute. Dann beschloss er zu Abbys großer Verblüffung, zu Hause weiterzuarbeiten.
    Es war eine Ewigkeit her, dass er so früh sein Büro verlassen hatte. Gewöhnlich arbeitete er rund vierzehn Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche, und seit seiner Scheidung ging er häufig sogar sonntags ins Büro. Von allen Teilhabern arbeitete er am längsten.
    Mit seiner letzten Glanzleistung hatte er sich zudem großes Ansehen erworben: Obwohl alle Mitarbeiter der Kanzlei diese Aufgabe als sehr heikel einschätzten, war es ihm gelungen, die durch die Medien hochgespielte Fusion der Unternehmen Downey und NewWax abzuwickeln, was ihm sogar einen lobenden Artikel in der angesehenen Fachzeitschrift National Lawyer eingebracht hatte. Nathan war den meisten Kollegen ein Dorn im Auge. Er war zu vorbildlich, zu perfekt. Er besaß nicht nur ein attraktives Äußeres, sondern auch untadelige Manieren, vergaß nie, die Sekretärinnen zu grüßen, dankte dem Portier, der ihm ein Taxi rief, und widmete bedürftigen Mandanten ein paar Gratisstunden im Monat.
    Die lebhafte Atmosphäre auf der Straße tat ihm gut. Es fielen noch einzelne Flocken, doch der Schneefall war nicht so dicht gewesen, dass er den Verkehr behinderte. Während er nach einem Taxi Ausschau hielt, hörte er einen Kinderchor. In makellos weißen Gewändern sangen die Kinder vor der Kirche St.   Bartholemew das Ave verum corpus. Er konnte sich nicht dagegen wehren, dass die Musik ihn berührte, beruhigend und aufwühlend zugleich.
    Kurz nach achtzehn Uhr kam er zu Hause an, machte sich einen heißen Tee und griff nach dem Telefon.
    Auch wenn es in San Diego erst fünfzehn Uhr war, würden Bonnie und Mallory vielleicht zu Hause sein. Er wollte die Einzelheiten der Reise seiner Tochter besprechen, die in wenigen Tagen zu ihm kommen sollte, weil sie dann Ferien hatte. Sorgfältig wählte er die Nummer. Nach dem dritten Läuten schaltete sich der Anrufbeantworter ein.
    »Sie haben die Nummer von Mallory Wexler gewählt. Sie können mich im Augenblick nicht persönlich sprechen, aber …«
    Den Klang ihrer Stimme zu hören, tat ihm gut. Es war wie eine Sauerstoffzufuhr, auf die er allzu lange hatte verzichten müssen. Wie genügsam er geworden war, dabei war es überhaupt nicht seine Art, sich mit wenig zufrieden zu geben.
    Plötzlich wurde die Ansage unterbrochen.
    »Hallo?«
    Nathan brauchte übermenschliche Kraft, damit seine Stimme unbeschwert klang, nur um seiner alten, dämlichen Gewohnheit zu folgen: niemals Schwäche zu zeigen, nicht einmal der Frau gegenüber, die ihn von Kindheit an kannte.
    »Hi, Mallory.«
    Wie lange schon nannte er sie nicht mehr mein Liebling?
    »Guten Tag«, erwiderte sie ohne Begeisterung.
    »Alles in Ordnung?«
    Sie erwiderte schroff:
    »Was willst du denn, Nathan?«
    Ah ja, ich habe begriffen: Heute ist bestimmt nicht der Tag, an dem du bereit bist, dich freundlich mit mir zu unterhalten.
    »Ich rufe nur an, um mit dir über Bonnies Reise zu sprechen. Ist sie bei dir?«
    »Sie ist im Geigenunterricht, sie kommt in einer Stunde zurück.«
    »Vielleicht könntest du mir schon mal sagen, wann sie abfliegt«, bat er. »Ich glaube, ihre Maschine kommt am frühen Abend an …«
    »Sie kommt in einer Stunde zurück«, wiederholte Mallory, offensichtlich bemüht, diese Unterhaltung zu beenden.
    »Sehr gut, schön, dann bi…«
    Doch sie hatte bereits den Hörer aufgelegt.
    Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass in ihrer Beziehung eines Tages eine solche Kälte herrschen könnte. Warum konnten sich zwei Menschen, die sich einmal sehr nahe gewesen waren, wie Fremde verhalten? Wie war das möglich? Er setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer und ließ den Blick zur Decke schweifen. Wie naiv er doch war! Natürlich war das möglich! Er brauchte sich nur umzusehen: Scheidungen, Betrügereien, Überdruss . In seinem Beruf war die Konkurrenz unerbittlich. Nur jene durften auf Erfolg
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