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Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter
Autoren: Guillaume Musso
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die Straße hinauf. Die Weihnachtsbeleuchtungen und die Kränze aus Stechpalmen an den Eingangstüren tauchten das Viertel in festlichen Glanz. Nathan lief am Naturkundemuseum vorbei, und am Ende eines Hundertmetersprints betrat er den Central Park.
    Zu dieser Tageszeit und bei dieser Kälte war kaum jemand unterwegs. Ein eisiger Wind kam vom Hudson her und fegte über die Joggingstrecke, die um den Reservoir, den künstlichen See inmitten des Parks, herumführte.
    Auch wenn es nicht unbedingt als empfehlenswert galt, diesen Weg zu nehmen, so lange es noch dunkel war, tat Nathan es dennoch ohne Furcht. Seit Jahren joggte er hier, und nie hatte er etwas Unangenehmes erlebt. Nathan hielt sich an einen gleichmäßigen Laufrhythmus. Die Luft war klirrend kalt, aber um nichts in der Welt hätte er auf seine tägliche Stunde Sport verzichtet.
    Nach einer Dreiviertelstunde gleichmäßigen Laufens hielt er auf der Höhe der Traverse Road an, löschte seinen Durst und setzte sich einen Moment auf den Rasen.
    Er dachte an die milden Winter Kaliforniens, an die Küste von San Diego, wo sich ein kilometerlanger Strand ideal fürs Laufen eignete. Für einen Augenblick sah er in Gedanken seine Tochter Bonnie, wie sie sich vor Lachen schüttelte.
    Sie fehlte ihm so sehr, dass es schmerzte.
    Das Gesicht seiner Frau Mallory und ihre großen, meerblauen Augen kamen ihm auch in den Sinn, aber er zwang sich, dieses Bild zu verdrängen.
    Hör auf, mit dem Messer in der Wunde herumzustochern.
    Dennoch blieb er auf dem Rasen sitzen, beherrscht von dieser grenzenlosen Leere, die er empfunden hatte, als sie gegangen war. Eine Leere, die ihn seit mehreren Monaten innerlich verzehrte.
    Er hätte es niemals für möglich gehalten, dass Schmerz solche Ausmaße annehmen konnte.
    Er fühlte sich einsam und elend. Einen kurzen Moment lang füllten sich seine Augen mit Tränen, bis der eisige Wind sie vertrieb.
    Er trank noch einen Schluck Wasser. Seit er am Morgen erwacht war, fühlte er einen seltsamen Schmerz in der Brust, etwas wie Seitenstechen, das seine Atmung behinderte.
    Die ersten Flocken fielen. Nun erhob er sich doch, lief mit langen Schritten zum San Remo Building zurück, weil er noch duschen wollte, bevor er zur Arbeit aufbrach.
    Nathan schlug die Tür des Taxis zu. Im dunklen Anzug und frisch rasiert betrat er den Glasturm an der Ecke Park Avenue und 52.   Straße, in dem sich die Büros der Kanzlei Marble & March befanden. Von allen Anwaltskanzleien der Stadt war Marble die erfolgreichste. Sie beschäftigte über neunhundert Angestellte in allen Teilen der Vereinigten Staaten, und fast die Hälfte arbeitete nur in New York.
    Nathan hatte seine Karriere bei Marble & March in San Diego begonnen, wo er so schnell zum Star der Kanzlei wurde, dass der Hauptgesellschafter Ashley Jordan ihn als Teilhaber vorschlug. Die Kanzlei in New York befand sich zu jener Zeit im Ausbau, sodass Nathan mit einunddreißig Jahren seine Koffer packte, um in die Stadt zurückzukehren, in der er aufgewachsen war und in der seine neue Stelle als stellvertretender Leiter der Abteilung Fusionen/Akquisitionen auf ihn wartete.
    Eine ungewöhnliche Karriere für sein Alter.
    Nathan hatte sein ehrgeiziges Ziel erreicht: Er war ein Rainmaker , einer der angesehensten und jüngsten Anwälte in seinem Bereich. Er hatte es ganz nach oben geschafft. Nicht durch Börsengewinne oder Erbschaften. Nein, er hatte das Geld mit seiner Arbeit verdient. Indem er einzelne Menschen und Gesellschaften verteidigte und dafür sorgte, dass Gesetze befolgt wurden.
    Brillant, reich und hochmütig.
    Das war Nathan Del Amico.
    Von außen betrachtet.
    Nathan beschäftigte sich den ganzen Vormittag mit den Mitarbeitern und kontrollierte ihre Arbeiten, um die laufenden Fälle auf den Punkt zu bringen. Gegen Mittag brachte Abby ihm einen Kaffee, Sesambrezeln und cream cheese.
    Abby war seit mehreren Jahren seine Assistentin. Sie stammte aus Kalifornien und war bereit gewesen, ihm nach New York zu folgen, weil sie gut miteinander auskamen. Als Single mittleren Alters ging sie in ihrer Arbeit auf und besaß Nathans ganzes Vertrauen. Er zögerte niemals, ihr Verantwortung zu übertragen. Abby war außerordentlich fleißig und hatte eine Arbeitsmoral, mit der sie das Tempo ihres Chefs mühelos halten oder sogar beschleunigen konnte, selbst wenn sie sich dafür insgeheim mit Vitaminsäften und reichlich Koffein traktieren musste.
    Da Nathan in der folgenden Stunde keinen Termin hatte, lockerte er
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