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Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter
Autoren: Guillaume Musso
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bedauern, keinen Schal und keine Mütze dabeizuhaben.
    »Meine Großmutter sagte immer: Man kennt New York erst, wenn man oben auf dem Empire State Building gewesen ist«, brüllte Goodrich im Brausen des Windes.
    Der Ort war wirklich voller Magie. In der Nähe des Aufzugs wartete das Gespenst von Cary Grant auf eine Deborah Kerr, die nie kommen würde. Ein Stück weiter, auf das Geländer gestützt, machte sich ein japanisches Paar den Spaß, Tom Hanks und Meg Ryan in der letzten Szene von Schlaflos in Seattle nachzuahmen.
    Nathan näherte sich vorsichtig dem Rand des Aussichtsturms und beugte sich vor.
    Die Nacht, die Kälte und die Wolken verliehen der Stadt etwas Mysteriöses, und es dauerte nicht lange, bis er sich für das Schauspiel begeisterte. Dank seiner zentralen Lage bot das Gebäude zweifellos eine der beeindruckendsten Ansichten von Manhattan.
    Von hier aus hatte man einen einmaligen Blick auf die Spitze des Chrysler Buildings und den Times Square, der vermutlich sehr belebt war.
    »Seit meiner Kindheit bin ich nie mehr hier gewesen«, gestand der Anwalt und steckte einen Vierteldollar in den Schlitz eines Fernrohrs.
    Die Autos, die 86   Stockwerke tiefer drängelten, waren so winzig und der Verkehrsstrom so weit entfernt, als gehöre er zu einem anderen Planeten. Dagegen wirkte die Brücke der 59.   Straße unglaublich nah, und ihre prachtvolle Architektur spiegelte sich im schwarzen Wasser des East River.
    Lange Zeit schwiegen Nathan und Garrett, begnügten sich damit, die Lichter der Stadt zu bewundern. Der Wind blies immer noch eisig, und die Kälte biss in die Gesichter. Eine freundliche Atmosphäre der Mitteilsamkeit entstand in der kleinen Menschenmenge, die sich für diesen einen Abend dreihundert Meter über dem Erdboden gebildet hatte. Ein Liebespaar umarmte sich leidenschaftlich, fasziniert von der elektrischen Aufladung ihrer Lippen. Eine Gruppe französischer Touristen stellte Vergleiche mit dem Eiffelturm an, während ein Paar aus Wyoming jedem, der es hören wollte, von seiner ersten Begegnung erzählte, die vor fünfundzwanzig Jahren genau an dieser Stelle stattgefunden hatte. In dicke Parkas eingemummte Kinder spielten Verstecken im Labyrinth aus den Beinen der Erwachsenen.
    Über ihren Köpfen trieb der Wind in unbeschreiblicher Geschwindigkeit die Wolken dahin, enthüllte hie und da ein Stück Himmel, an dem ein einzelner Stern funkelte. Es war wirklich eine schöne Nacht.
    Goodrich brach als Erster das Schweigen:
    »Der Junge mit dem orangen Anorak«, flüsterte er Nathan ins Ohr.
    »Was?«
    »Schauen Sie sich den Jungen mit dem orangen Anorak an.«
    Nathan kniff die Augen zusammen und musterte aufmerksam den jungen Mann, den Goodrich ihm gezeigt hatte: Er war gerade auf die Plattform getreten. Er war ungefähr zwanzig, hatte einen dünnen blonden Bart, und die langen, fettigen Haare waren zu Dreadlocks gedreht. Er lief zweimal um die Aussichtsterrasse herum und kam ganz dicht an Nathan vorbei, dem sein fiebriger, unruhiger Blick auffiel. Er war offensichtlich sehr aufgewühlt. Sein leidgeprüftes Gesicht stand in krassem Gegensatz zum Gelächter und der guten Laune der übrigen Besucher.
    Nathan dachte, dass er vielleicht Drogen genommen hatte.
    »Er heißt Kevin Williamson«, erklärte ihm Goodrich.
    »Sie kennen ihn?«
    »Nicht persönlich, aber ich kenne seine Geschichte. Sein Vater hat sich von dieser Plattform gestürzt, damals, als noch kein Gitter davor war. Seit einer Woche kommt Kevin regelmäßig hierher.«
    »Woher wissen Sie das alles?«
    »Sagen wir mal, ich habe Nachforschungen angestellt.«
    Der Anwalt ließ sich Zeit, dann fragte er:
    »Aber was geht mich das an?«
    »Alles, was die Existenz unserer Artgenossen betrifft, geht uns an«, erwiderte der Arzt, als stelle er nur eine schlichte Tatsache fest.
    In diesem Augenblick fegte ein heftiger Windstoß über die Aussichtsterrasse. Nathan ging dichter auf Goodrich zu.
    »Du lieber Himmel, Garrett, warum soll ich mir diesen Mann anschauen?«
    »Weil er sterben wird«, erwiderte Goodrich ernst.
    »Sie sind … Sie sind ja übergeschnappt«, rief der Anwalt. Aber während er diese Worte aussprach, musste er wie gebannt auf Kevin starren und spürte, wie eine seltsame Unruhe in ihm aufstieg.
    Es wird nichts passieren. So etwas kann einfach nicht passieren  …
    Aber keine Minute verging zwischen Goodrichs unerwarteter Vorhersage und dem Augenblick, in dem der junge Mann einen Revolver aus der Anoraktasche zog. Einige
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