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Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter
Autoren: Guillaume Musso
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Sekunden lang hielt er die Waffe in seiner zitternden Hand und betrachtete sie voller Abscheu.
    Anfangs schien niemand sein seltsames Verhalten zu bemerken. Dann schrie eine Frau plötzlich:
    »Dieser Mann ist bewaffnet!«
    Sofort hefteten sich alle Blicke auf den jungen Mann.
    Kevin geriet in Panik und richtete die Waffe gegen sich selbst. Seine Lippen bebten vor Angst, Tränen der Wut rollten über seine Wangen, ein Schrei tiefster Verzweiflung verlor sich in der Dunkelheit der Nacht.
    »Tun Sie’s nicht«, rief ein Familienvater, während sich alle Besucher der Plattform in einem unglaublichen Durcheinander zu dem überdachten Raum drängelten.
    Nathan blieb reglos vor dem Jungen stehen. Er war fasziniert und erschreckt zugleich von dem, was sich vor seinen Augen abspielte, er wagte nicht sich zu rühren, aus Angst, das Unvermeidliche zu beschleunigen. Er fror nicht mehr, ganz im Gegenteil. Plötzlich hatte er das Gefühl, sein Körper stehe in Flammen.
    Hoffentlich schießt er nicht …
    Tu’s nicht, Junge, tu’s nicht …
    Doch Kevin schaute nach oben, betrachtete ein letztes Mal den sternenlosen Himmel, dann drückte er ab.
    Der Knall zerriss die New Yorker Nacht. Die Beine des Jungen gaben unter ihm nach, er brach zusammen.
    Für einen Augenblick schien die Zeit stehen zu bleiben.
    Dann hörte man angstvolle Schreie, und auf der Aussichtsplattform entstand großer Aufruhr. Die Menschen drängelten sich vor den Aufzügen. Kopflos rempelten sie einander an, rannten in alle Richtungen. Einige hatten bereits ihr Handy am Ohr . schnell . die Familie benachrichtigen … die Freunde. Seit jenem berühmten Septembermorgen waren sich die meisten New Yorker ihrer Verletzlichkeit schmerzhaft bewusst. Alle hier waren bis zu einem bestimmten Grad traumatisiert, und die Touristen wussten wohl, dass sie in Manhattan auf alles gefasst sein mussten.
    Zusammen mit einigen anderen war Nathan auf der Aussichtsplattform geblieben. Um Kevins Leiche bildete sich ein Kreis. Das Liebespaar war blutbespritzt, die junge Frau weinte lautlos.
    »Gehen Sie weiter! Lassen Sie ihm Luft zum Atmen«, rief ein Sicherheitsbeamter und beugte sich über den jungen Mann.
    Er griff nach seinem Walkie-Talkie und bat die Lobby um Hilfe.
    »Rufen Sie die Feuerwehr und einen Krankenwagen! Wir haben im 86.   Stock einen Mann mit einer Schussverletzung.«
    Dann beugte er sich wieder über Kevin, um festzustellen, dass jede Hilfe zu spät kam und man ihn nur noch ins Leichenschauhaus transportieren konnte.
    Nathan war nur einen Meter von dem Toten entfernt und konnte seinen Blick nicht von der Leiche lösen. Das schmerzverzerrte Gesicht war mitten in einem Angstschrei erstarrt. Die weit aufgerissenen, glasigen Augen blickten ins Leere. Hinter dem Ohr konnte man eine klaffende, dunkelrote Brandwunde erkennen. Ein Teil des Schädels war vom Einschuss aufgerissen, der andere war mit Blut und Hirnmasse verschmiert. Plötzlich wusste Nathan, dass er diesen Anblick sein Leben lang nicht vergessen würde, dass er ihn quälen würde, immer wieder, des Nachts und in den Augenblicken unerträglicher Einsamkeit.
    Die Neugierigen verteilten sich allmählich wieder. Ein kleiner Junge hatte seine Eltern verloren, stand drei Meter von der Leiche entfernt und starrte hypnotisiert auf die Blutlache.
    Nathan nahm ihn auf den Arm, um ihn vom Schauspiel des Todes abzulenken.
    »Komm, Kleiner. Schau nicht hin. Alles wird gut. Alles wird gut.«
    Als er sich erhob, entdeckte er Goodrich, der in der Menge untertauchte. Er lief ihm nach.
    »Garrett, warten Sie, verdammt noch mal.«
    Mit dem Kind auf dem Arm bahnte sich Nathan mit den Ellenbogen einen Weg, um den Arzt einzuholen.
    »Woher wussten Sie das?«, schrie er und zerrte ihn an der Schulter.
    Abwesend wie er war, reagierte Goodrich gar nicht auf die Frage.
    Nathan versuchte ihn aufzuhalten, aber er wurde von den Eltern des Jungen angesprochen, die überaus erleichtert waren, ihren Sohn wiederzuhaben.
    »Oh, James, du hast uns solche Angst eingejagt, Süßer!«
    Der Anwalt machte sich mühsam von diesem Gefühlsüberschwang los. Er jagte dem Arzt hinterher, der sich gerade noch in den ersten verfügbaren Aufzug zwängte.
    »Garrett, warum haben Sie nichts unternommen?«
    Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke, doch die Schiebetüren hatten sich schon geschlossen, als Nathan seine letzte Frage brüllte: »Warum haben Sie nichts getan, obwohl Sie wussten , dass er sich töten wollte?«

Kapitel 5
    Nur
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