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Ein dunkler Gesang

Ein dunkler Gesang

Titel: Ein dunkler Gesang
Autoren: Phil Rickman
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Kirchturm. Der Anblick hatte etwas verwirrend Verführerisches: Man hatte das Gefühl, wenn man sich hineinfallen ließe, würde einen das Bild einfach aufsaugen und man hätte sich in nichts aufgelöst, bevor man unten ankam.
    Lol schüttelte den Kopf. Sein Tag hatte ohnehin schon nicht gut angefangen. Montagvormittags musste er sich einen Arbeitsplan für die Woche machen: Am Schreibtisch unter dem Fenster sitzen, Songs schreiben. Seinen Lebensunterhalt verdienen. Was er eben machte. Beziehungsweise machen sollte. Warum war er dann beinahe froh gewesen, als er Jane über die Straße auf sein Cottage zukommen sah?
    Jane sagte, sie hätte schulfrei, um an einem Projekt für den Kunstunterricht zu arbeiten, sie sollten Landschaftsmysterien zusammenstellen. Und eine Sache müsste sie mit jemandem durchsprechen, aber Merrily war schon früh weg, weil sie sich mit einem ängstlichen Pfarrer treffen musste, also wollte sie fragen, ob Lol vielleicht
eine Stunde
für sie übrig hätte …
    Überall um den Cole Hill waren die Pfade zugewuchert, die Zauntritte auseinandergefallen und Stacheldrahtzäune gezogen. Sie hatten schon beinahe eine Stunde gebraucht, bis sie überhaupt oben waren.
    «Kein Mensch kommt mehr hierherauf, und das ist falsch. Wir müssen alle zu den hochgelegenen Plätzen gehen. Das steht in der Bibel, also wird sogar Mom …»
    «Warst
du
denn schon einmal an diesem speziellen hochgelegenen Platz, Jane?»
    Sie runzelte die Stirn. «Ich bin jetzt da, darauf kommt es an. Von hier kommt die uralte Energie, mit der das Dorf spirituell ernährt wird, mit dem seine Seele ernährt wird. Verstehst du?»
    «Das hat Alfred Watkins tatsächlich gesagt? Dass Ledwardine mit dieser Energie ernährt wird?»
    «Nicht wortwörtlich, aber er
hätte
es gesagt, wenn er kein Friedensrichter mit Bürgerpflichten und so weiter gewesen wäre. Man muss
zwischen den Zeilen lesen
, Lol.»
    «Ach so.»
    Lol musste einfach einsehen, dass die Lektüre von Alfred Watkins die gesamte Wahrnehmung dieser Hügel veränderte – genau wie Watkins’ eigene Wahrnehmung sich verändert hatte, als er auf dem Gipfel eines Hügels gar nicht weit weg stand und ihm schlagartig bewusst wurde, dass die historischen Stätten – von prähistorischen Steinhügeln und Gräbern bis zu den Kirchen des Mittelalters – in geraden Linien ausgerichtet zu sein schienen. Watkins hatte diese Linien als früheste britische Wege betrachtet; fast alle Mutmaßungen, die darüber hinausgingen, stammten aus der New-Age-Bewegung.
    «Und was machen wir jetzt, Jane?»
    «Schau auf die Kirche. Behalt den Kirchturm im Blick.»
    Der Kirchturm musste etwa eine halbe Meile entfernt sein, doch von der Hügelkuppe aus hatte man das Gefühl, die Hand ausstrecken und den Wetterhahn berühren zu können. Im Westen dahinter sah man in der Ferne der Black Mountains den Hay Bluff aus dem Nebel ragen.
    Jane setzte ihre Sonnenbrille auf.
    «Und jetzt gehen wir darauf zu.»
    Lol folgte ihr mit ein paar Schritten Abstand. Er war inzwischen sicher, dass sie noch ein anderes Problem hatte. Gab es Schwierigkeiten zwischen ihr und Eirion? Sie waren schon lange zusammen. Vielleicht sogar zu lange, für Teenager.
    «Nach oben haben wir den einfachsten Weg genommen», sagte Jane über die Schulter. «Aber abwärts müssen wir eine andere Strecke gehen, um mehr oder weniger genau auf der Geraden zu bleiben. Der Pfad macht ein paar Kurven, aber wenn wir den Kirchturm im Blick behalten …»
    «Wie geht’s Eirion, Jane?»
    «Gut.» Ihre Stimme klang ein bisschen zu unbeschwert. «Geht im September an die Uni.»
    «Wo?»
    «Kommt auf sein Abschlusszeugnis an. Oxford, wenn er gut genug ist. Bristol oder Cardiff, wenn er es vermasselt. Oder wenn er es
richtig
vermasselt, wird es einer von diesen Läden, die bis gestern noch Volkshochschulen waren.»
    «Verstehe.»
    «Ich meine, es ist doch abartig, dass
jeder irgendwohin gehen
muss. Heutzutage brauchst du ja schon ein Diplom, wenn du Nachtwächter werden willst. Und wahrscheinlich muss man einen Abschluss in … Hygienestudien vorweisen, um einen Job als Klofrau zu ergattern. Das ist …»
    Jane kam auf dem Geröll ins Rutschen und klammerte sich an einen Baum, um nicht hinzufallen.
    «… doch alles der komplette Schwachsinn. Hier herrscht der reinste Stalinismus, damit bloß keiner ein bisschen Individualität behält, damit nur ja jeder in eine vorgefertigte Schublade passt. Und das Ergebnis ist, dass die Leute mit allen möglichen
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