Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein dunkler Gesang

Ein dunkler Gesang

Titel: Ein dunkler Gesang
Autoren: Phil Rickman
Vom Netzwerk:
Segen zu sprechen. Es war eines dieser immer üblicher werdenden Rituale, zusammen mit all den Kränzen für Unfallopfer, die von trauernden Hinterbliebenen an der Straße abgelegt wurden – wann hatte das alles eigentlich angefangen? Aber das war auch egal – diese Sache war Aufgabe des Ortsgeistlichen, es sei denn, es gab irgendwelche Komplikationen.
    «Wie viele Unfälle genau hat es hier gegeben, Mr. Spicer?»
    Er antwortete nicht. Er stand sehr still vor ihr. Klein und stämmig, das spärliche, ergrauende Haar kurz rasiert und mit kleinen, blanken Augen, die wirkten, als lägen sie
auf
seinem Gesicht und nicht in den Augenhöhlen. Wie die Augen eines Teddys, dachte Merrily.
Der arme Mann
, hatte Sophie am Vorabend am Telefon gesagt.
Sie hat natürlich die Kinder mitgenommen.
    Es war, als hätte sich ein Teil von Spicer vollkommen in ihn zurückgezogen. Das schafften nicht viele Leute in Anwesenheit eines Fremden – schon gar nicht Geistliche, die, sofern sie nicht gerade in einer Kirche waren, Stille anscheinend vor allem als eine Art Vakuum ansahen, durch das Zweifel und Ungläubigkeit Einzug halten konnten, weshalb die Stille immerzu mit Geplapper gefüllt werden musste, sei es auch noch so überflüssig.
    Na ja, egal. Merrily ließ die Stille sich ausbreiten und sah zu den gestaffelten Wallanlagen des Festungshügels hinauf, der Herefordshire Beacon oder auch Britisches Lager genannt wurde. Der Beacon war der markanteste der Malvernhügel. Es hieß, dort hätten die Kelten dem römischen Angriff Widerstand geleistet. Die wolkenverschleierte Sonne hing darüber wie eine Lampe mit weißem Schirm.
    Der Name Malvern stammte vom walisischen
moel bryn
, was kahler Hügel bedeutete, und kahl war dieser Hügel immer noch, oben auf seinem vulkanischen Rücken, während sich über die Vorberge und in den alpin wirkenden Tälern üppige Obstpflanzungen und die Gärten der Sommerhäuser erstreckten: gut erhaltene Überbleibsel von Elgars England.
    «Drei oder vier bis jetzt», sagte Spicer. «Oder sogar fünf, wenn man diesen dazurechnet. Und all das innerhalb von ein paar Monaten. Bei einem war es ein Laster. Hat einen ziemlichen Brocken aus der Kirchenmauer gerissen.»
    «Und auf einer so übersichtlichen Strecke wie dieser ist das vermutlich …»
    «Die Fahrer meinten, sie mussten einem Geist ausweichen», sagte Spicer.
    Sein Ton hatte sich nicht geändert, und sein Blick blieb klar. Der Ruf einer Ringeltaube klang aus einem der Täler herauf.
    «Das hat ja gedauert, bis das raus war», sagte Merrily.
    «Kommen Sie mit ins Haus.» Er drehte sich um. «Wir sprechen dort darüber.»

2 Onkel Alfie
    Nach sehr wenig Schlaf wachte Jane schwitzend und desorientiert auf. Einerseits war sie einfach nur begeistert, andererseits kochte sie beinahe vor Wut über diese Ungerechtigkeit, diese Gier, dieses Sakrileg.
    Die Schweine.
    Das zarte Licht deutete darauf hin, dass es noch sehr früh war, dennoch leuchteten die Mondrian-Wände schon. Alte, balkengerahmte Rechtecke, einst mit Flechtwerk und Lehm gefüllt, dann verputzt und weiß gekalkt und schließlich übermalt, von Jane höchstselbst, in herausfordernden Rot-, Blau- und Orangetönen.
    Es war schon mehr als zwei Jahre her, dass sie die weißen Flächen zwischen den Fachwerkbalken gestrichen hatte, sie war beinahe noch ein Kind gewesen und ziemlich verwirrt, weil sie in dieses altmodische Dorf hatte ziehen müssen, und zwar mit einer Mutter, die eigentlich ganz normal gewesen war, sich dann aber plötzlich in eine verdammte Pfarrerin verwandelt hatte.
    Sie war einfach ein Kind gewesen, das ein Zeichen hatte setzen wollen:
Jetzt wohnt Jane hier. Jane lässt sich nichts gefallen. Das ist Janes Apartment. So läuft das bei Jane, okay?
    Bei einem Pfarrhaus aus dem siebzehnten Jahrhundert hätte das Amt für Denkmalschutz das ganz und gar nicht okay gefunden, allerdings war es unwahrscheinlich, dass die irgendwann mit einem Durchsuchungsbefehl für den Dachboden vor der Tür standen. Rückblickend musste man zugeben, dass Mom ziemlich gut reagiert hatte, als sie Jane erlaubte, sich auf dem Dachboden ein eigenes Apartment einzurichten und die Wände mit bunten Farben anzustreichen, die sie sich eigentlich gar nicht hatten leisten können … und sie hatte auch kein einziges Mal gesagt, es sähe scheiße aus.
    Aber das war mehr als zwei Jahre her, und jetzt war Jane, das musste man sich mal vorstellen:
siebzehn.
Und diese damals so wichtige Aktion, diese damals
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher