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Ein Clochard mit schlechten Karten

Ein Clochard mit schlechten Karten

Titel: Ein Clochard mit schlechten Karten
Autoren: Leo Malet
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riesiges Areal aus Stein und Schutt, so groß wie viele
Fußballfelder, gähnt Leere. Vor einem hochstöckigen Betonklotz (Rohbau oder
Bauruine?) verspricht eine Plakatwand stolz: „Hier entstehen auf 55.000
Quadratmeter Fläche neue Büroräume“. Wer verwalten will, findet immer einen
Platz.
     
    Nestor Burmas Spuren enden also
im Niemandsland. Die Place Fernand- Forest an der Ecke
Rue Linois ist heute ein seelenloses Wegkreuz, hinter
dem sich ein hochmodernes Einkaufszentrum aufbaut. Viel Stein und Glas, sehr
viel Plastik natürlich, Pastellfarben dominieren. Die wenigen Lokale am Rand
eines ausgedehnten Lichthofes sind so heimelig wie ein Einwohner-Meldeamt. Ein
Schnell- Imbiß verspricht für den Speisezettel eine
deutsche Woche. Kreidegestrichelt tafelt ein prallbusiges Mädchen in Alpentracht mit langen Zöpfen dicke Würste auf. Ein rechtes
Gretchen, denn wie französische Oberschüler mit zwei Jahren Schuldeutsch
wissen, heißen deutsche Mädchen gerne Gretchen und wohnen im Schwarzwald oder
am Rhein und trinken keinen Wein, sondern Bier und wenn sie nicht gestorben
sind, dann leben sie noch heute. Genauso wie beschrieben, denn so hat man es ja
gelernt und so verkauft sich der deutsche Fremdenverkehr in Frankreich auch am
besten. Wer sich so verkauft, hat sich verraten.
    Kein Gretchen natürlich, aber
auch kein Clochard, mit Baskenmütze auf dem Kopf, einer Baguette unter dem Arm
und Rotweinflasche in der ausgebeulten Tasche eines abgewetzten Mantels, in Routis ’ Bistro. Klischee-Typen machen sich rar.

     
    An der Theke steht einer mit Schnauzbart
und Latzhose und schwatzt mit der Kellnerin. Ob Routis ,
der Ex-Weltmeister noch lebe, frage ich sie. Nein, sagt sie, Routis sei längst tot, aber den Namen habe man natürlich
behalten. Warum auch nicht? Der mit der Latzhose blättert in der Sportzeitung L’Equipe . Das könnte so einer von Citroen sein, wenn
Citroën nicht längst abgewandert wäre.
    An der anderen Ecke der Rue Nélaton läßt sich sofort das Haus finden, in dem Madame
Joséphine zu Hause war. Tatsächlich, Burma hatte recht, man muß sich schon weit
aus dem Fenster lehnen, will man ein Stück vom Eiffelturm sehen und von der Métro -Linie zwischen den Stationen Dupleix und Bir-Hakeim . Im Parterre, wie man auf deutsch französisch sagt,
was kein Franzose versteht, führt ein Araber ein Restaurant mit
Couscous-Spezialitäten. Noch heute also gehen im Haus von Madame Joséphine die
Nordafrikaner ein und aus. Nur wenige Schritte sind es bis zur Seine. Der Stadt
steht in diesen Tagen das Wasser bis zum Hals. Die Allée des Cygnes , die zwischen Pont de Bir-Hakeim und Pont de Grenelle in zwei Hälften teilt, ist
überflutet. Die Schwanenallee, eine langgezogene schmale Halbinsel, ist vor
allem beliebt bei Sonntagsspaziergängern. An ihrem westlichen Ende steht die
Freiheitsstatue.
    Die Schwaneninsel hat eine
düstere Vorgeschichte. Nach der blutigen Bartholomäusnacht im August 1572, die 2000 protestantischen Hugenotten das Leben kostete, wurden
die Leichen auf der Schwanenallee, die damals noch Insel der Kupplerin hieß,
verscharrt. Als dem elsässischen Bildhauer Bartholdi vor nun über hundert
Jahren der Auftrag zum Entwurf der Freiheitsstatue zuteil
wurde , da entschloß man sich, eine kleinere Kopie auf der Schwanenallee
zu errichten. Mit Blickrichtung nach Westen, nach Amerika. Das hätte freilich
vorausgesetzt, daß der Präsident der Republik sie von einem schwankenden Boot
aus hätte einweihen müssen.
    Mit festem Boden unter den
Füßen hätte der Herr Präsident bei der Feierstunde ansonsten mit dem Hinterteil
des Monuments vorliebgenommen. Also wurde — dem präsiden-tiellen Ritual zuliebe — die Statue gen Osten gedreht. Erst ein halbes Jahrhundert
später machte das Denkmal erneut eine Kehrtwende, um, wie ursprünglich geplant,
den Blick auf’s entfernte Amerika zu richten. Weitere
Kopien der Statue stehen übrigens im Museum für handwerkliche Kunst und im
Jardin du Luxembourg. „Die keuchende Lokomotive schickte dicken weißen Dampf
in den wolkenverhangenen Himmel“. Aus und vorbei. Dampflokomotiven keuchen
natürlich auch in Paris nicht mehr.
    „Verdammt provinziell hier,
still und friedlich. Der Charme, der von diesen Plätzen ausgeht, ist nicht
leicht zu beschreiben. „ Ebenfalls aus und vorbei. Der diskrete Charme der Pariser Bourgeoisie ist hier
nicht mehr zu finden.

    Was bleibt also von der
Romantik an der Seine? Nicht einmal die Hausboote und Wohnschiffe, die
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