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Ein Blatt Liebe

Ein Blatt Liebe

Titel: Ein Blatt Liebe
Autoren: Emile Zola
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umstanden, kam ihnen die Lebenslust zurück. Es war ja nicht
wahr, man erzählte sich nur dummes Zeug. Das Wetter war gar zu
schön und der Friedhof mit seinem hohen Grase so verlockend. Wie
hätte man hier so prächtig hinter all den großen Steinen Verstecken
spielen können! Schon tanzten die kleinen Füße, und die weißen
Kleider wehten wie Fittiche. Im Schweigen der Gräber taute der
laue, leise Sonnenregen die Kinderherzen auf. Lucien hatte die Hand
unter Marguerites Schleier geschoben und berührte ihr Haar, um zu
prüfen, ob es auch nicht gefärbt wäre. Dann sagte er ihr, daß sie
heiraten würden. Marguerite war nicht abgeneigt, nur fürchtete sie
sich, daß er sie dann immer an den Haaren ziehen würde. Da faßte
Lucien wieder zu und fand die hellen Haare weich wie
Seidenpapier.
    »Lauf nicht so weit weg!« mahnte Pauline.
    »Nun, ich denke auch, wir wollen aufbrechen!« sagte Frau
Deberle. »Die Kinder müssen Hunger haben … «
    Nun mußten die kleinen Mädchen, die auseinander geflogen waren
wie ein Pensionat auf dem Spaziergang, zusammengesucht werden. Als
man zählte, fehlte die kleine Guiraud.
Endlich fand man auch sie in einem Laubengang, wo sie unter Mutters
Sonnenschirm würdevoll auf und ab marschierte. Die Flut der weißen
Gewänder vor sich her schiebend, drängten nun auch die Damen dem
Ausgang zu. Frau Berthier beglückwünschte Pauline zur Heirat. Im
nächsten Monat sollte die Hochzeit sein. Frau Deberle erzählte, daß
sie übermorgen mit ihrem Manne und dem Jungen nach Neapel zu reisen
gedächte. Die Leute zerstreuten sich… Zephyrin und Rosalie waren
bis zuletzt geblieben. Nun gingen auch sie Arm in Arm. Bei aller
Traurigkeit freuten sie sich auf den kleinen Spaziergang. Sie
gingen sehr langsam und waren noch einen Augenblick am Ende des
Hauptganges zu sehen.
    »Kommen Sie!« sagte Herr Rambaud leise.
    Helene bat ihn zu warten. Sie blieb allein, und es war ihr, als
hätte man ein Blatt aus dem Buche ihres Lebens herausgerissen. Als
die letzten Trauergäste gegangen waren, kniete sie mühsam an der
Gruft nieder. Der Priester im Chorhemd hatte sich noch nicht
erhoben. Beide beteten lange.
    Dann sagte er zu seinem Bruder mit einem Blick voll milder
Barmherzigkeit auf die Trauernde:
    »Gib ihr deinen Arm!«
    Am Horizont leuchtete Paris im strahlenden Frühlingsmorgen, Auf
dem Friedhof schlug ein Fink.

Kapitel 20
     
    Zwei Jahre waren vergangen. An einem Dezembermorgen ruhte der
kleine Friedhof von Passy in großer Kälte. Seit gestern fegte der
Nordwind feinen Schnee über die Gräber. Vom verblassenden Himmel
rieselten jetzt spärliche Flocken mit der Leichtigkeit weißer
Federn. Der Schnee verhärtete sich bereits, und ein hoher
Schwanenpelz säumte die Brustwehr der Terrasse. Jenseits der weißen
verschwommenen Horizontlinie dehnte sich Paris.
    Auf den Knien liegend, betete Frau Rambaud vor Jeannes Grab. Ihr
Gatte hatte sich still erhoben. Im November hatten sie in Marseille
geheiratet. Herr Rambaud hatte sein Haus in den Hallen verkauft,
und weilte seit drei Tagen in Paris, um die Angelegenheit zum
Abschluß zu bringen. In der Rue des Réservoirs wartete der Wagen,
der beim Hotel vorfahren sollte, um das Gepäck zur Bahn zu
schaffen. Helene hatte die Reise einzig in dem Gedanken mitgemacht,
an Jeannes Grab zu weilen.
    Noch immer kniete sie reglos mit gesenktem Kopf auf der
naßkalten Erde.
    Der Wind hatte nachgelassen. Herr Rambaud war feinfühlig auf die
Terrasse hinausgetreten. Aus den Fernen von Paris stieg ein Nebel
auf, dessen ungeheure Größe in der bleichen Leere dieser Wolke
versank. Zwei Tränen glitten von den Lidern der Knienden. Der
Friedhof breitete die Weiße eines
Grabtuches um sie, eines Grabtuches, das von verrosteten Gittern
und eisernen Kreuzen gleich trauernden Armen zerrissen war. Die
Schritte des Paares hatten einen Pfad in diese einsame Stätte
gegraben. Es war eine makellose Einsamkeit, in der die Toten
schlummerten. Zuweilen fiel ein Schneeklumpen von einem Grabkreuze,
dann rührte sich nichts mehr. Am andern Ende des Friedhofs war ein
schwarzer Zug vorübergestampft. Hier bettete man einen Toten unter
dieses weiße ungeheure Laken aus Schnee.
    Herr Rambaud hatte sich wieder dem Grabe genähert, und Helene
stand auf, ihm entgegenzugehen. Sein freundliches Gesicht zeigte
Unruhe.
    »Helene, laß die Toten ruhen!« sagte er leise.
    Er wußte, was sie gelitten hatte. Und mit diesem einen Worte
hatte er alles gesagt. Frau Rambauds Gesicht war von der
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