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Ein Blatt Liebe

Ein Blatt Liebe

Titel: Ein Blatt Liebe
Autoren: Emile Zola
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erklärte sich Fräulein Aurélie bereit,
hierzubleiben. Sie liebte freilich traurige Situationen nicht und
würde sich wohl mit dem Imbiß beschäftigen, der für die Kinder bei
der Rückkehr bereitstand. So beeilte sich Frau Deberle, den
Trauerzug einzuholen, der soeben in die Rue de Passy zur Kirche hin
einbog.
    Der Garten war menschenleer. Arbeiter legten schon die Behänge
zusammen. In der Wagenspur im Sande lagen nur noch ein paar
abgefallene Kamelienblüten. In dieser plötzlichen Einsamkeit und
Stille überkam Helene von neuem die Angst, da nun das Band zwischen
Mutter und Kind auf ewig zerrissen war.
Nur einmal noch, nur ein einziges Mal noch bei Jeanne sein! Die
Zwangsvorstellung, daß Jeanne im Groll von ihr geschieden sei, das
finstere, stumme Gesicht des Kindes fuhr über sie hin mit dem
hellen Brand eines glühenden Eisens. Als Helene gewahrte, daß nur
noch Fräulein Aurélie auf sie achtgab, versuchte sie ihr zu
entschlüpfen und auf den Kirchhof zu laufen.
    »Ja, ja, wirklich ein herber Verlust,« tröstete die alte Jungfer
und machte es sich in einem Lehnstuhl bequem. »Ich hätte die
eigenen Kinder auch lieber gehabt als mein Leben, vor allem so ein
kleines Mädchen! Aber dann bin ich auch wieder recht zufrieden, daß
ich nicht geheiratet habe… Man geht da so manchem Kummer aus dem
Wege… «
    In ihrer Gutmütigkeit glaubte sie Frau Grandjean zu zerstreuen.
Sie schwatzte weiter von einer ihrer Freundinnen, die sogar ein
halbes Dutzend Kinder gehabt hätte – alle waren gestorben. Eine
andere Dame hatte nur einen Sohn behalten, der seine Mutter später
prügelte. Der hätte ruhig sterben können. Der Mutter wäre es nicht
schwer geworden, sich zu trösten. Helene schien zuzuhören, nur
zuweilen befiel sie ein Zittern der Ungeduld.
    »Sie werden auch noch ruhiger werden,« glaubte Fräulein Aurélie
trösten zu müssen. »Du meine Güte! Einmal endlich heilen alle
Schmerzen.«
    Die Tür zum Eßzimmer ging zugleich auf den japanischen Pavillon
hinaus. Fräulein Aurélie war aufgestanden, öffnete die Tür und
reckte den Hals. Kuchenschüsseln standen bereit. Da flüchtete
Helene eilig durch den Garten. Die Leute vom Beerdigungsinstitut
trugen soeben die Leitern durch das geöffnete Tor.
    Links biegt die Rue Vineuse in die Rue des
Réservoirs, wo man den Friedhof von Passy findet. Jetzt stand
Helene vor dem gähnenden Kirchhofstor, hinter dem sich die Anlagen
mit den weißen Grabmälern und schwarzen Kreuzen dehnten. Sie trat
ein. Zwei hohe Fliederbüsche trieben am Ende des ersten Ganges ihre
Knospen. Die Dahineilende schreckte eine Schar Sperlinge auf, und
ein Totengräber hob den Kopf. Der Leichenzug schien noch nicht
angelangt, der Friedhof war menschenleer. Weiter schritt Helene bis
zur Brüstung der Terrasse und sah plötzlich hinter einem
Akaziengebüsch die kleinen Mädchen, die vor dem offenen Grabe
knieten, in das man soeben den Sarg gesenkt hatte. Abbé Jouve
spendete mit erhobener Hand den letzten Segen. Die Feier war zu
Ende.
    Pauline hatte die einsame Trauernde bemerkt und machte Frau
Deberle aufmerksam.
    »Wie! Sie ist doch noch gekommen! Aber das geht doch nicht! Das
ist doch gegen jeden Anstand… «
    Damit ging Juliette auf Helene zu und zeigte ihr unverhohlen
ihre Mißbilligung; auch die andern Damen kamen neugierig näher.
Herr Rambaud hatte sich schweigend neben die Freundin gestellt.
Helene lehnte an einem Akazienbaum. Sie fühlte sich einer Ohnmacht
nahe, von all diesen Leuten zermalmt und zerdrückt. Während sie mit
einem Kopfnicken die Beileidsbezeigungen entgegennahm, folterte sie
ein einziger Gedanke: Wieder war sie zu spät gekommen… Immer wieder
schaute sie zur Gruft hinüber, vor der ein Friedhofswärter den Gang
fegte.
    »Pauline! Gib auf die Kinder acht!« rief Frau Deberle laut.
    Die kniende Kinderschar fuhr in die Höhe wie ein Schwarm
aufgescheuchter Sperlinge. Ein paar der Kleinsten, die sich mit ihren Knien in den Röckchen verheddert
hatten, blieben auf der Erde sitzen und mußten aufgehoben
werden …
    Während der Sarg in die Tiefe gesenkt wurde, hatten die Großen
die Köpfe gereckt, um auf den Grund des Grabes zu sehen. Es war
sehr dunkel … Sophie versicherte leise, daß man viele, viele
Jahre dort drin bleiben müsse. »Die Nacht auch?« fragte die kleine
Levasseur. »Gewiß, auch die Nacht! Immer, immer!« Alle sahen
einander mit großen Augen an, als hätten sie soeben eine
Räubergeschichte gehört. Als sie dann in loser Reihe wieder das
Grab
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