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Ein Blatt Liebe

Ein Blatt Liebe

Titel: Ein Blatt Liebe
Autoren: Emile Zola
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ihr
kindlich zugelächelt hätte – es wäre ihrem zerrissenen Mutterherzen
ein Trost gewesen.
    »Nein, nein, nein!… Lassen Sie mich noch hier … Sie können
sie mir nicht nehmen, ich will sie küssen … Oh, einen
Augenblick … einen einzigen Augenblick … «
    Sie umfing die Tote mit zitternden Armen und verwehrte sie den
Trägern, die verdrossen im Vorzimmer warteten. Aber ihre Lippen
wärmten das kalte Gesicht nicht, und sie fühlte, wie Jeanne sie
noch immer abwies. Endlich überließ sie das Kind den Händen derer,
die sie forttrugen, und sank auf einen Stuhl im Eßzimmer. Sie
wiederholte die dumpfe Klage:
    »Ach, mein Gott!… Ach, mein Gott!… «
    Die Aufregung hatte Herrn Rambaud und Frau Deberle erschöpft,
und als sie bald darauf die Tür öffneten, war es zu Ende. Alles war
völlig lautlos vor sich gegangen. Die geölten Schrauben hatten die
Sargdeckel auf ewig verschlossen. Ein weißes Tuch verhüllte die
Bahre.
    Man ließ jetzt Helene gewähren. Als sie wieder ins Sterbezimmer
trat, wanderte ihr irrer Blick über Möbel und Wände. Rosalie hatte
die Gardine zugezogen, um die letzten Spuren der kleinen
Dahingeschiedenen zu tilgen. Die Finger in einer irren Gebärde
spreizend, stürzte Helene zur Treppe. Herr Rambaud hielt sie
zurück, und Frau Deberle sprach beruhigend auf sie ein. Helene
versprach, sich zusammenzunehmen und dem Leichenzuge nicht zu folgen. Nur zusehen wollte sie, sie würde
sich auch im Pavillon ruhig halten. Man mußte sie ankleiden.
Juliette verbarg ihren Hausrock unter einem schwarzen Schal, nur
den Hut fand sie nicht. Endlich entdeckte sie einen und riß von ihm
einen Strauß roter Verbenen ab. Herr Rambaud, der an der Spitze des
Zuges gehen sollte, nahm Helenes Arm. Als man im Garten war,
flüsterte Frau Deberle:
    »Lassen Sie sie nicht aus den Augen!… Ich … ich habe noch
viel zu erledigen … «
    Dann entfernte sich Juliette eilig, während Helene mit zu Boden
geschlagenen Blicken mühsam Schritt vor Schritt setzte. Als sie in
den hellen Sonnentag hinaustrat, seufzte sie:
    »Ach, du mein Gott, welch herrlicher Morgen!«
    Jetzt sah sie den kleinen Weg unter den weißen Vorhängen. Herr
Rambaud suchte ihr sanft den Weg; zu verstellen.
    »Fassen Sie Mut! Ich bitte Sie… « sagte er mit zitternder
Stimme.
    Der kleine Sarg badete sich im Strahl der Sonne. Am Fußende
hatte man auf einem Spitzenkissen ein silbernes Kruzifix
niedergelegt, und daneben zitterte ein Wedel in einem
Weihrauchfasse. Die großen Kerzen brannten ohne jede Flamme gegen
die Sonnenscheibe… Es war, als ob unzählige kleine Seelen tanzend
gen Himmel flögen… Unter schwarzen Behängen bildeten die Baumzweige
mit ihren schwellenden Knöspchen eine Wiege. Es war ein
Frühlingswinkel, in den durch einen Spalt der Tücher der Goldstaub
eines breiten Sonnenstrahles fiel und die den Sarg bedeckenden
Blumen überschüttete. Es war ein Garten weißer Kamelien und Lilien,
von weißen Nelken, ein dichter Schneefall
weißer Blumenblüten… Die Leiche blieb unsichtbar. Weiße Trauben
hingen am Grabtuche nieder, und weiße Hyazinthen waren
herabgefallen und entblätterten sich. Die wenigen Spaziergänger in
der Rue Vineuse blieben mit bewegtem Lächeln vor diesem
sonnenbeschienenen Garten stehen, wo die kleine Tote unter den
Blumen schlief. All dieses Weiß sang, blendende Reinheit flammte im
Lichte, und die Sonne wärmte die Vorhänge, die Sträuße und Kronen
zu schauerndem Leben. Über den Rosen summte eine Biene.
    »Die Blumen … die Blumen … « flüsterte Helene.
    Sie preßte ihr Taschentuch an die Lippen, und ihre Augen füllten
sich mit Tränen. Es schien ihr, als ob es Jeanne nun endlich warm
sein müsse, und es überkam sie ein Gefühl der Rührung gegen all die
Leute, die ihr Kind in dieses reiche Blumenmeer gebettet hatten.
Schon wollte Helene näher treten… Herr Rambaud mochte sie nicht
hindern. Wie wohlig war es ihm unter den schwarzen Behängen!
Frühlingsduft stieg empor, und die laue Luft tat keinen Atemzug.
Sie beugte sich nieder und suchte nach einer Rose, um sie sich
anzustecken.
    »Bleiben Sie nicht hier,« sagte er, die Trauernde mit sich
fortziehend. »Sie zittern ja. Sie haben versprochen, sich zu
schonen.«
    Er wollte sie in den Pavillon geleiten, als Pauline erschien.
Sie hatte es übernommen, den Trauerzug zu ordnen. Die kleinen
Mädchen kamen eins hinter dem andern aus dem Hause. Die weißen
Kleider bauschten sich in der Sonne und zeichneten zarte Schatten
wie auf
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