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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach
Autoren: Isabella Nadolny
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sie beide erwachsen waren, nutzte es ihr nichts mehr, daß er dabei den Kopf recht hoch trug, er trat ihr doch auf Schwanz und Hinterbeine, die am Boden schleiften. Dann gab es vorne an Mieze einen Ruck, und etwaige Augenzeugen riefen aus: «Jessas! Die Katz is hin!»
    Kaum hatte sich das Leben im neuen Häuschen einigermaßen eingespielt, da taten Mama und ich ein übriges für die Einrichtung und suchten dazu die kleine Kreisstadt auf. Es war ein süßes Nest mit alten Häusern, vielen Wirtschaften, einer schönen Kirche und affektiert sprechenden Ladenfräuleins. Dort kauften wir freundlich gewürfelte Stöffchen, zu Ehren des Landes meist weißblau, für Kissenbezüge, Vorhänge vor Stellagen und Küchenfenster. Wir suchten uns auch auf Ratschläge befreundeter Bäuerinnen einen Weber, der uns Restenteppiche webte. Die Dielen des Häuschens waren hell und schön. Diese Teppiche sollten verhindern, daß sich daran etwas änderte.
    Kaum war das Haus fertig eingerichtet, praktisch, schön und nach unseren Maßen, da erinnerten sich viele Leute daran, daß sie uns so lange nicht gesehen hatten. Das Haus quoll über von Besuchern. Wer Gruppenaufnahmen vor den Verandastufen machte, bekam die Anwesenden nur noch mit Querformat auf den Film, und ich mußte fünfmal am Tag baden, weil man jeden Gast wieder an den Strand führen mußte. Ulf war recht angetan davon, er apportierte alles aus dem See, was man ihm hinwarf, und roch bis zum Abend durchdringend nach nasser Wolle. Wenn man ausschließlich am Strande gelebt hätte, wäre es noch gegangen, aber man mußte in seinem eigenen Zimmer jeden Gürtel und jedes Taschentuch hübsch forträumen und die Blumenvase auf den Tintenfleck auf dem Tisch rücken, weil zu den unsinnigsten Tageszeiten Scharen von entzückten Besuchern das Häusel besichtigen wollten. Leute, die nur flüchtig oder gar nicht mit uns verwandt waren, kamen jodelnd mit Rucksack den Leidweg vom Dorfe her und wollten bei uns übernachten. Das Mädchen Emma wurde von diesem Andrang ins Nachbarhaus gespült, wo sie eine Dachkammer bezog und die Tugend der fünf Söhne auf harte Proben stellte.
    Wer nicht zum Übernachten kam, wollte zumindest Tee trinken. Nun bewährte sich der Samowar, der russische Gastlichkeit gewohnt war. Er hielt das Teewasser für etwa zwölf Personen eine halbe Stunde lang kochend, und es konnten auch diejenigen noch gelabt werden, die sich beim Wettschwimmen verspätet hatten. Wer zeitlich so geschickt kam, daß man ihm keinen Tee anzubieten brauchte, wollte sich wenigstens bei uns seine Badesachen anziehen. Die schütteren Weiden des Strandes gaben nicht genügend Sichtschutz. Freundlich stellte derjenige, der gerade die Honneurs des Hauses machte, sein Zimmer zum Umziehen zur Verfügung. Da der Schlosser sich Zeit damit ließ, die Schlüssel zu den Türen zu liefern, stieß man bei jeder Besichtigung auf Leute, die gerade den Badeanzug halb anhatten und «Hoppla!» riefen. Schon damals kamen uns in düsteren Augenblicken Zweifel, ob es nicht doch besser gewesen wäre, etwas weiter weg vom Ufer zu bauen.
    Besichtigen aber wollten, wie schon gesagt, alle. Es war nach all der Unruhe und Mühe ja auch wohltuend und befriedigend, die Entzückensschreie über soviel Praktisches zu hören. Ich versäumte nie, blitzgeschwind die Kellerklappe im Küchenfußboden zu öffnen und gewandt die steile Hühnerleiter zu dem noch leeren Regal mit ebenso leeren Einmachgläsern hinunterzuturnen. Als mir die Klappe zum ersten Male auf den Kopf fiel, war gerade kein Gast da, der hätte zuschauen und lachen können. Die Familie umstand mich mitfühlend und Mama meinte, wir sollten vielleicht doch einen Haken dort anbringen, wo die geöffnete Klappe sich an den Rahmen der Außentür lehnte. Wir vergaßen es dann aber wieder. Am nächsten Tag schloß sich mein rechtes Auge, ohne eigentlich weh zu tun, und seine Umgebung färbte sich blaugrün und violett. Papa sah es lange an und meinte, er wolle es doch einmal mit abstrakter Malerei versuchen. Nein, die Gäste lachten nicht über die Kellerklappe. Sie lachten an einer ganz anderen Stelle, in einem kleinen, verschwiegenen Raum, in dem man sie alleine ließ. Dort hatte Leo Baumscheren, Bohrer, Sägen und Stemmeisen aufgehängt. Daß diese Werkzeuge dem Gast gerade dort zur Verfügung standen, gab unserem Hause eine weitere originelle Note.
    Beim Herantreten an die einzelnen Fenster ertönte bei allen Gästen ein langgezogenes «Ah!», besonders vom oberen
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