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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach
Autoren: Isabella Nadolny
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besichtigen konnte, weil ständig Balken und Bretter vom Dach niederprasselten, wobei von oben der Ruf: «Öha!» ertönte, gingen wir gleich hinein.
    Innen war es fast geräumig, wenn man es nicht mit unseren Zimmern in München verglich, die die Ausmaße von Radrennbahnen hatten. Es waren noch gar nicht alle Räume fertig, und wenn erst die vielen Klötzchen, Absägsel, Abschnitzel und Hobelspäne hinausgeschafft sein würden, war es bestimmt groß genug für die paar Sommerwochen. Wir wollten ja hauptsächlich am Strande leben. An Brennmaterial für den Herd, den das Mädchen Emma für gut und brauchbar befand, war vorläufig kein Mangel.
    Der Korridor war sehr eng. Wenn wir uns alle gleichzeitig dort die Mäntel auszogen, wurden immer einige die untersten Treppenstufen hinaufgedrängt. Unten war ein großes Wohnzimmer mit vier Riesenfenstern und einem leuchtend blauen Kachelofen von erstaunlicher Schönheit. Die vier großen Fenster waren der reine Vogelmord: Seehams gefiederte Sänger konnten sich nur schwer daran gewöhnen, daß diese über Eck stehenden Durchblicke auf Garten und Himmel Glas sein sollten, und stießen sich die Köpfe ein. Die Sitzbank im Bauernstil hatte Bruder Leo nach seinem Maß anfertigen lassen: Menschen von über 1,95 Meter saßen dort wie in Abrahams Schoß, Pygmäen hätten quer auf der Sitzfläche schlafen können.
    Auf der Veranda, die auch Tisch und Bank enthielt, war es wieder enger, aber durch das Ungeziefer abwechslungsreicher. Die vielen Bremsen und Pferdefliegen, hieß es, würden nicht so sehr von den schwitzenden Arbeitern angezogen, als vielmehr vom Harzduft des frischen Holzes. In die Zimmer, unten zwei und die Küche, oben zwei und ein Kämmerlein, konnten sie aber glücklicherweise nicht hinein, Leo hatte überall Fliegengitter vor die Fenster legen lassen. Es dauerte eine Weile, bis die Familie begriffen hatte, daß jeder Apfelbutzen und jeder Zigarettenstummel, den man hinauswarf, einem sofort wieder ins Gesicht flog.
    Papa beschlagnahmte das Zimmer im oberen Stock, das nach Norden ging. Dort sei das beste Licht zum Malen.
    Wir kehrten und schaufelten und hatten unser Häuschen schon am ersten Abend soweit hobelspanfrei, daß man die Betten an die hierfür vorgesehenen Stellen rücken konnte. Abends und morgens war die Familie damit beschäftigt, die verschiedenen Astlöcher und Maserungen in Gesichter, Profile, Tiere und Alraunen aufzuteilen. Das ganze Haus sah aus wie eine helle Schachtel aus Holz, und zunächst wußte man nicht recht, wo man seine Kleider hinhängen sollte. Es kamen noch immer Handwerker, doch nahm ihre Wichtigkeit von Tag zu Tag ab, schließlich wurden nur noch Lehrbuben geschickt, die Läden anbrachten oder aus dem Dachfenster hängend etwas draußen annageln sollten, wobei Mama die kleineren unter ihnen ängstlich an der Lederhose festhielt.
    An einigen Fenstergriffen war zu merken, daß die kleine Kreisstadt gegen Ende des Baues ausverkauft gewesen war: mancher Riegel, der rechtsherum gehen sollte, ging nur linksherum und umgekehrt. Manches Rohr-Kniestück, das in entsprechender Krümmung, Biegung oder Stärke nicht mehr vorhanden gewesen war, wurde durch etwas ähnlich Gebogenes, Gekrümmtes ersetzt, und es kam innerhalb des häuslichen Röhrensystems zu barocken Schnörkeln. Mama konnte über derlei gelegentlich verdrießlich sein. Papa zog lachend an seiner Nase und meinte, Kniestück hin, Kniestück her, er sei froh, daß er keines anmalen müsse, das sei noch unangenehmer. In diesen Kleinigkeiten zeigte sich sofort, daß das Haus, von uns erbaut und bewohnt, uns in gewisser Weise ähnlich zu werden drohte. Es huldigte schrankenlosem Individualismus.
    Gleich am ersten Tag wurden die einzelnen Familienmitglieder zum Dienst eingeteilt. Die Versorgung der Küche mit Fischen und das Heizen des Samowars mit Tannzapfen war Papas Aufgabe, das Herbeischaffen der Tannzapfen die meine. Mama holte die näher gelegenen Viktualien, die ferner gelegenen Lebensmittel hatte ich mit dem Rad heimzutransportieren. Alles, was nicht genau zu umschreiben war oder technisches Können und Einfallsreichtum voraussetzte, fiel Bruder Leo zu. Jeder von uns mußte täglich fünf Minuten die Handpumpe bedienen. Bei jedem Schlag erzitterte ein Gewicht, das an einer Schnur vor der Wand hing, und senkte sich nur sehr allmählich. Wenn die Spitze des Gewichtes dort angelangt war, wo Leo mit Tintenstift ein Kreuz hingezeichnet hatte, war das Bassin droben voll. Dann
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