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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach
Autoren: Isabella Nadolny
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versuchte, in die winzige Veranda hineinzublicken.
    «O mei! Liab!» sagte sie.
    Das war ihr einziger Kommentar.
    Die Eltern genossen den Bau auf ihre Weise. Es war das zweite Haus, das sie in ihrem Leben bauten. Sie hatten schon vor meiner Zeit einmal eines gehabt. Mit dem zweiten Haus schien es ähnlich zu sein wie mit dem zweiten Kuß: Man genoß ihn mehr, weil man nicht mehr so überrascht war und nicht mehr fürchtete, dabei etwas falsch zu machen. Sie unterhielten sich angeregt über die Vorteile von Einbauschränken, Balkonverschalungen und dergleichen, das heißt, Mama ließ die Begriffe genußreich auf der Zunge zergehen, und Papa behielt seine ironisch-amüsierte Distanz bei.
    Diesmal bauten wir nach Maß. Ich meine das durchaus wörtlich. Ich mußte unzählige Male mit einem Stapel Handtücher in die Kniebeuge gehen, damit festgestellt werden konnte, wie tief ein bequemer Wäscheschrank sein darf. Das Mädchen Emma mußte eine imaginäre Essigflasche in die Höhe heben, damit das unwiderruflich oberste Fach des Küchenregals nicht wieder oberhalb ihrer Reichweite läge.
    Wenn eine Familie wie die unsere sich chronisch in den falschen Ländern ansiedelt und bei politischen Wirren, Kriegen, Revolutionen das Geld immer wieder nicht rechtzeitig in der Schweiz deponiert, dann erleichtert das gewisse Entscheidungen beim Bau eines Sommerhauses sehr: Von zwei Möglichkeiten wählt man immer die billigere. Das spart Kopfzerbrechen.
    Nicht, daß ich mich damals an solchen Erwägungen beteiligt hätte. Ich war, wie stets, damit beschäftigt, in jemanden verliebt zu sein, und das füllte mich neben dem Schulbesuch völlig aus. Die Objekte wechselten, mal war der Deutschlehrer dran, mal Gustav Fröhlich, mal ein Student, der gegenüber wohnte. Ich erfuhr beim Mittagessen bruchstückweise, daß sich die Arbeiterschaft von Seeham, wenn auch mit bayerischer Reserviertheit, so doch mit leuchtenden Augen auf das Bauvorhaben gestürzt hatte. Es herrschte gerade Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise, und an günstig gelegenen elektrischen Masten klebten kleine Plakate mit der Aufforderung, doch bitte die Wirtschaft anzukurbeln. Nun denn, wir kurbelten.
    Die kleine Kreisstadt mit ihren Baumaterialien- und Eisenlagern lag elf Kilometer weit ab. Bruder Leo wurde zu einem geübten Sechstagefahrer, hart trainiert durch die Aufgabe, schwappendes, wedelndes und sperriges Gut auf seinem Rade fortzubewegen. In seiner Doppelrolle als Bauherr und Erdarbeiter verhinderte er das Schlimmste und hielt auch den bayerischen Handwerkerbrauch, zwischen Brotzeit und Brotzeit fieberhaft herumzustehen, weitgehend in Schranken.
    Die freudig erwarteten Ferien waren unvermutet da, und wir machten uns auf den Weg nach Seeham. Zunächst nahmen wir nur das Allerwichtigste mit: die Teemaschine aus Moskau, auch Samowar genannt, das Dienstmädchen Emma, eine verkleinerte Geländezeichnung «Seehams nächste Umgebung», Angelzeug und eine Farbenmühle, eine wahre Höllenmaschine, mit der Papa sich seine Farben zum Malen an Ort und Stelle selber bereiten konnte.
    Um den Einzug noch aufregender zu gestalten, überquerten wir den See per Dampfer. Dieser Dampfer war mit I. und II. Klasse und einem prachtvollen bärtigen Kapitän ausgestattet, der seine Befehle durch ein dünnes Messingrohr ins Schiffsinnere hinunterspuckte. In beiden Klassen zog es gleich stark, aber in dem neutralen Raum zwischen ihnen konnte derjenige, dem die Aussicht nicht genügte, sich einige bunte Postkarten von dem unglücklichen König Ludwig kaufen.
    Der Himmel war blaßblau und viel höher als in München, die Berge zauberhaft. Ich ließ mir ihre Namen sagen und brachte sie sofort alle durcheinander. Etwa von der Mitte des Sees an rief man mir von allen Seiten zu: «Da! Da! Siehst du’s? Am Ufer schaut es durch die Bäume! Nein, weiter links, das daneben mit dem hellen Dach!» Ich sah nichts und sagte aus Höflichkeit: «Jaja.»
    Unser Schiff legte unter imponierender Schaumentwicklung der Schaufelräder am Landungssteg an, und dort stand Bruder Leo, um uns zu empfangen, neben sich einen gewaltigen Schubkarren für das Gepäck.
    Außerhalb des Dorfes, allein auf der Wiese hinter dem Bach und daher ganz leicht zu finden, lag neben einem unförmigen Erdhaufen ein blondes Holzhäuschen mit riesengroßem Dach. Es war zweifellos viel zu klein, als daß wir alle hätten darin Platz finden können. Außerdem wimmelten noch viele Handwerker darin herum. Da man es von außen zurzeit nicht
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