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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach
Autoren: Isabella Nadolny
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hatten alle kolossal viel zu tun und keine Minute übrig.
    Irgendwann klärte es sich dann wirklich auf und man konnte über den kleinen Fußweg, der sich in einen Wassergraben verwandelt hatte, wieder an den See vorstoßen. Die Berge sahen aus wie frisch gewaschen, Wolkenschaum lief wie kochende Milch an ihren Flanken herab. Das Wasser des Sees war schmutziggrün und das Ufer viel schmaler geworden. Die kleine Mole, hinter der die Boote des Nachbarn Zuflucht suchten, war überflutet. Wir nahmen diese Phänomene wahr und dachten uns nichts dabei. Nachmittags machten wir den ersten Spaziergang, einen jener gewissen ländlichen Spaziergänge, bei denen man die wichtigsten Argumente des Gesprächs einander zurufen muß, weil die Partner gerade einige Pfützen überspringen oder sich den Lehm an Grasbüscheln von den Schuhen wischen. Um nun außer dem Dreck an den Schuhen noch etwas Nützliches mit nach Hause zu bringen, kehrten wir in verschiedenen Höfen ein und kauften Eier. Es wurden erfreulich viele, und nun brauchten wir den großen, grauen Steinguttopf, der drunten im Keller stand, um sie einzulegen. Ich öffnete ahnungslos die Kellerklappe und wich mit einem Aufschrei zurück. Das Grundwasser stand unmittelbar unter dem Küchenfußboden. In ihm schwammen die leeren Einmachgläser und die zerbrochenen Reste des großen Bowlengefäßes, das Leo mit dem Vermerk Baden verboten! versehen hatte. Der Steinguttopf war ohne Taucherausrüstung nicht herbeizuschaffen.
    Wir machten aus einem Teil der Eier ein Omlett, in der richtigen Erkenntnis, daß wir jetzt Kraft nötig hätten. Dann sammelten wir alle Eimer, die das Haus enthielt, und machten uns ans Ausschöpfen. Es ging viel langsamer als in Schillers Glocke, wo der Eimer ja nur so fliegt, dafür aber hatten wir alle, außer dem Mädchen Emma, hinterher Ischias, Hexenschuß und Kreuzschmerzen. Krumm, aber stolz, wischten wir mit einem Lappen, hierzulande Hadern genannt, die letzten feuchten Reste auf. Dann warfen wir die Scherben weg und stellten die heilgebliebenen Gläser wieder in das hölzerne Regal. Beim Abendessen erklärte uns Papa, daß die Höhe des Grundwasserspiegels mit der Höhe des Sees zusammenhinge und die Höhe des Sees mit der Wassermenge der Zuflüsse, und die Wassermenge der Zuflüsse mit dem Regen, der am Alpenrand deswegen immerzu fiele, weil die Wolken nicht weiterkönnten. Wir hörten alle schweigend zu, weil wir so müde waren, und das Einschlafen abends im gemütlichen Bett schmeckte an dem Tag so gut wie ein Stück Torte.
    Achtundvierzig Stunden später war wieder ziemlich viel Wasser im Keller, wenn auch diesmal nur bis zur drittuntersten Stufe. Wir ließen den Maurer kommen. Er schob den Hut vorne in die Stirne und kratzte sich vom Nackenhaar bis zum Scheitelbein und wieder zurück. Dann räusperte er sich und sagte, es müsse am Grundwasser liegen. Mama erwiderte kühl, das wüßten wir bereits. Da könne man nun nichts Rechtes machen, sagte der brave Mann, der vorgab, für die Fundamente dieses Hauses nicht allein verantwortlich zu sein, da könne man höchstens eine Vertiefung in den Zement des Kellerbodens ausheben, damit dort das Ausschöpfen leichter ginge. Wir sagten alle «aha». In Bruder Leos Gesicht glaubte ich Vorbehalte zu erkennen.
    Was geschehen konnte, geschah. Mama meinte, daß es eine wesentliche Verbesserung sei, das Ausschöpfen ginge jetzt bestimmt leichter. Wir probierten es. Es ging tatsächlich leichter. Man konnte sich jetzt mit der linken Hand an die Hühnerstiege klammern, und wenn man sich etwas nach rechts hängen ließ, so erreichte man, ohne ins Wasser zu treten, mit dem Eimer gerade das Loch, in dem sich die letzten Wasserreste sammelten. Ich rechnete mir aus, wieviel ich in einer Reihe von regnerischen Sommern an Gymnastikkursen und Sportgeräten sparen würde. Leo sagte entrüstet, daß er jetzt endlich wisse, warum der Grund so billig gewesen sei.
    Die Gläser räumten wir gar nicht erst wieder hinunter, sondern ins oberste Fach des Speiseschrankes. Es lohnte ja auch kaum mehr. Es kam der gräßliche Tag, an dem Mama wohlwollend, aber bestimmt zu mir sagte: «Wie wäre es, wenn du dir noch einmal deine Schulbücher vornähmst, du hast, glaube ich, den ganzen Sommer über nicht hineingeschaut.» Es war sehr bitter, damit anzufangen, denn nun kamen die letzten und somit schönsten Tage der ganzen Ferien. Die Bremsen waren plötzlich weg. Sanft plätscherte der See an einen von Badenden leergefegten Strand.
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