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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach
Autoren: Isabella Nadolny
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Balkon, auf dem ich geläufig herzubeten pflegte: «Von links angefangen sieht man hier die ganze Gebirgskette, und zwar...» Den meisten Menschen gefallen die Berge erst, wenn sie wissen, wie sie heißen. Von Papas Zimmer, das fast unbemerkt den Namen «Atelier» erworben hatte, oder von der Küchentüre aus hätte die Aussicht besonders Chinesen begeistert. Sie war von großer Ruhe und völlig leer. In der Ferne sah man eine Kiesgrube, das war alles. Diese Kiesgrube behielt auch derjenige im Auge, der Eierschnee schlagend an die frische Luft trat, weil das Mädchen Emma den Küchenherd wieder so geheizt hatte, als wollte sie einen Ochsen braten.
    Es gab weibliche Gäste, die sich schelmisch für den Posten der Köchin vormerken ließen, falls dieser in unserem bezaubernden Häuschen einmal frei werden sollte. Das Mädchen Emma lächelte gequält und zerschlug eine Bremse auf ihrem schweißnassen Nacken. Mama, die immer etwas Tröstliches wußte, erwähnte, daß die Bremsen heute nur deswegen so besonders frech seien, weil ein Gewitter am Himmel stünde.
    In dieser unserer ersten Saison gab es noch keine verläßliche Wettervorhersage. Wir haben nie wieder so viele vertrocknete geschmierte Brote essen und bei pfeifendem Regensturm so viele Seltersflaschen mit kaltem Tee am Ecktisch im Wohnzimmer zu uns nehmen müssen wie damals, wo man am Abend eine Tour vorbereitete, um dann anderntags zu Hause zu bleiben. Bei unseren Milchnachbarn gab es einen «Wetterpropheten» an der Wand, einen übertrieben herzigen Buam mit mißfarbenem Höschen, das sich bei nahendem Regen rot und bei schönem Wetter blau zu färben hatte. Dieser Wetterprophet ging jedoch stets nach, und seine Hose färbte sich erst, wenn es zu spät war. War das Regenwetter als Tatsache etabliert und hingenommen, so setzte die Familie sich willig zusammen, steckte drei Stück Torf und einige übriggebliebene Deckenleisten in den Kachelofen und machte es sich gemütlich. Wir fertigten uns auf der Rückseite eines Kartons vom Krämer — er trug das Bildnis Andreas Hofers, des bekannten Erfinders des Feigenkaffees — ein eigenes Mensch-ärgere-dich-nicht an, sägten aus Sperrholz ganz verzwickte Puzzles aus und machten selber Silbenrätsel. Leos Rätsel waren am schwersten zu lösen. Einmal saß ich bis Mitternacht, weil ich die drei Worte:
    Idol = Greta Garbo
    Teil des Kopfes = Zahnplombe
    verstärktes Nachttier = Doppeluhu
    nicht herauskriegte.
    Manche der Gäste, die sich für die schönen Stunden in unserem Hause revanchieren wollten, schenkten uns Blödsinniges. So bekamen wir beispielsweise derartige Mengen von Keramikschalen und Vasen, daß über dem obersten Regalfach noch ein unwiderruflich letztes oberstes angebracht werden mußte. Andere waren klug und voller Einfühlungsvermögen. Einer schenkte uns einen Band «Frag mich was», der uns über manchen Regentag hinweghalf, und ein anderer einen aufblasbaren Gummiseehund, den wir wegen seiner semitischen Nase «Ephraim» tauften. Er wurde zum Schlager. Niemand wollte mehr ohne ihn an den Strand. Wer sich mit Ephraim fotografieren ließ, war eines gelungenen Bildes fast sicher, und außerdem ersetzte er die Badeschuhe. Mancher, der bislang nur unter wildem Grimassenschneiden über die Ufersteine gewatet war, stützte sich nun auf den prallgefüllten Ephraim, bis das Wasser tief genug wurde, um zu schwimmen. Dagegen allerdings, daß man mit dem freien Arm auf den glitschigen, moosbedeckten Steinen rutschend nicht richtig ausbalancieren konnte, weil man ständig Bremsen auf sich zerklatschen mußte, half auch der Gummiseehund nichts.
    An Regentagen kam niemand zu Besuch, und nachmittags saßen Mama und ich im Wohnzimmer und zerschnitten alte Kleider und löcherige Bettücher zu Streifen, die wir aneinandernähten und zu Knäueln wickelten, damit Restenteppiche daraus gewebt werden konnten. Es plauderte sich bei nichts traulicher über die Vergangenheit als beim Zerschneiden alter Textilien.
    Gegen vier Uhr, wenn der Samowar hereingetragen wurde und einen herrlichen Holzkohlenduft verbreitete, pflegte Mama unweigerlich aus dem Westfenster zu blicken und festzustellen, daß es in der Wetterecke schon ganz hell sei. Sie würde sich nicht wundern, wenn morgen die Sonne schiene.
    Wenn es sich zu neuem Wolkenbruch aufgeklärt hatte, kam Bruder Leo, um etwaige Langeweile zu verscheuchen, mit dem Ansinnen heraus, wir sollten alle Neugriechisch lernen oder Sanskrit. Sowas könne man immer brauchen. Sofort
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