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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach
Autoren: Isabella Nadolny
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seinen.
    «Hier», sagte ich leise und fuhr mit dem Finger an der Stelle entlang, «hier hätte Dickis Namenszug einmal stehen sollen.»
    «Ja», sagte Michael und steckte das Etui wieder ein. «Aber er hat nichts davon, wenn vorher seine Eltern verhungert sind. Ist mein Rad aufgepumpt?»
    In der kleinen Kreisstadt mischte Michael sich unter die fremdartigen Gestalten der Bahnhofstraße und war noch keine zehn Schritte gegangen, als eine leise Stimme ihn ansprach: «Ham’ Se was zu verkaufen? Gold? Schmuck? Alte Münzen?»
    «Ja, hier», sagte Michael ebenso leise und zog das Etui ein wenig aus der Tasche. Er blickte auf und in ein Paar dunkle, leicht verschleierte Augen, so traurig und so alt wie die Welt.
    «Das kann ich alleine nicht bezahlen, komm Se mit», sagte der Mann und führte Michael in seine blitzsaubere Wohnung irgendwo im dritten Stock eines für verschleppte Personen geräumten Hauses. Er müsse, sagte er, den Juwelier fragen, was das Etui wöge. Daran fand Michael nichts auszusetzen, aber die beiden Herren kannten einander noch zu wenig. Dem traurigen kleinen Juden kam eine gute Idee. «Da», sagte er eifrig und fuhr einen blütenweißen Kinderwagen mit einem schlafenden Kind in die Stube. «Halten Se das, bis ich zurück bin.»
    Michael stand ein wenig verdutzt da und sah nicht ohne Rührung auf das schlafende, ihm zum Pfande gelassene Kind nieder. Dann kam der Mann wieder, begleitet von sechs Freunden. Auf einem Zettel stand das Gewicht des Etuis, auf ein Zehntelgramm genau. Die Herren, die sich in einem unverständlichen Idiom unterhielten, kramten in allen Taschen und förderten die rasch vereinbarte Summe in Zwanzigmarkscheinen zutage, die auf dem Tisch ausgebreitet wurden. «Wenn Se aber nu angehalten werden? Es ist verboten, wissen Se», sagte der Mann mit dem traurigen Blick. «Kommen Se, wir verstecken das Geld auf Ihnen.»
    Eifrige Hände schoben die Scheine in Michaels Taschen, verteilten es in Rockfutter und Manschetten. Einige knieten vor Eifer nieder. Dann wurde eine gemeinsame Abschiedszigarette geraucht, eine amerikanische natürlich. Der Wohnungsinhaber zog ein Schubfach auf: «Seh’n Se», sagte er und zeigte Michael stolz den Grundstock für die neue Existenz in Amerika, «und nu noch Ihrs.»
    Unangefochten erreichte Michael auf dem Rad das Haus. Mama lag auf dem Sofa und sah ihm gespannt entgegen. Michael zog die Brauen hoch, räusperte sich wichtig und bedeckte den ganzen Wohnzimmertisch mit neuen Zwanzigmarkscheinen. Sie waren untereinander verschieden. «Kinder, Kinder», sagte Mama mit schwacher Stimme, «sind die auch sicher nicht zur Hälfte falsch? Wie lange hab ich nicht soviel Geld auf einmal gesehen. Zeig mal — ganz neue Bilder sind drauf.»
    «Los, ich lade euch zum Kaffee ein», sagte Michael mit der Attitüde eines Mannes, der gewohnt ist, aus dem Vollen zu verteilen, «drüben auf der anderen Seeseite soll es ein Café mit ausgezeichneten Torten geben. Jeder darf einmal essen, bis er nicht mehr kann.»
    «Ja, Kinder, fahrt», sagte Mama freudig bewegt. «Nicht ohne dich», sagte Michael und radelte zum Chauffeur des Holzgasautos. O Wunder, es gab kein Holzgasauto mehr. Ein funkelnder Mercedes-Diesel stand an seiner Stelle im alten Holzschuppen. Wo und wann er sich verwandelt hatte, blieb ungewiß. Wir stiegen alle ein, Dicki sogar mehrmals, und fuhren ins Café. Dicki stand der Schokoladeschaum noch in den Mundwinkeln, als er fragte: «Jetzt is Frieden, gell?»
    «Ja, Dicki», sagte Mama lächelnd und gab ihm noch den Rest von ihrem Stück Apfelkuchen. «Fahrn wir jetzt in jedem Frieden hierher?» fragte Dicki begeistert. Papa schlug vor, noch einige Schritte spazierenzugehen, dort droben am Hang stünde ein solch wundervoll dekorativer Birnbaum, den müsse er sich näher ansehen, genauso einen wolle er links im Vordergrund seines neuen Bildes wachsen lassen. — Mama blieb sitzen, und ich sah, daß sie, um uns die Freude nicht zu verderben, so getan hatte, als ginge es ihr heute besser.
    Gestärkt und in dem ruhigen Bewußtsein, nun viele Monate leben zu können, kehrten wir in unsere allzu freien Berufe zurück.
    Die Umstände normalisierten sich rasch: uralte Witze wurden wahr. Der Metzger fragte tatsächlich: «Es ist um ein Zehntel mehr, darf ich’s lassen?» und man runzelte die Stirn und sah in sein Portemonnaie. Ein andermal gab es nur Grießbrei, damit man sich mit gutem Gewissen für siebzig D-Pfennig pro Mann in der ehemaligen Flakbaracke die
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