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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach
Autoren: Isabella Nadolny
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Vorführung eines Wanderkinos ansehen konnte. Unter Herzklopfen saßen Michael und ich in der harten, engen Bank und sahen Bilder von Berlin. «Berlin», flüsterten wir ergriffen, «mein Gott, Berlin!» und taten einen tiefen Atemzug, in dem Bewunderung, Sehnsucht und Trauer mitzitterten. Wann würde man wieder reisen können? Und wenn, wann nach Berlin?
    Die Seehamer nahmen lange Zeit nicht wahr, daß der Berliner Michael nun in Oberbayern seßhaft war. Vorsichtig wurde ich gefragt, ob denn der Meinige heil aus dem Krieg heimgekehrt sei, weil man ihn nie sähe. Was er denn jetzt täte? Soso, Schriftsteller sei er.
    Einige Wochen später kam eine junge Bäuerin, scharrte auf der Veranda anhaltend mit den Füßen, rollte den Saum ihrer Schürze zwischen den Fingern und fragte, ob der Meinige ihr nicht vielleicht einen Schriftsatz gegen ihre zwangseingewiesenen Flüchtlinge aufsetzen könne, wo er doch Schriftsetzer sei. — Er könne auch Butter dafür haben, versicherte sie rasch, als sie mich mit der Antwort zögern sah.
    Der Flickschneider übersah die Sachlage etwas besser. «Ah, Bücher schreibend», sagte er und maß an Michaels Hosenbein herum, «in welcher Preislage denn?»
    Der Mann, der droben bei der Gemeinde das Spritzenhaus in Ordnung zu halten hatte, kam mit mir ins Gespräch, und als er erfuhr, daß Michael schrieb, blies er stark durch die Nase. «Pfüat di Gott», sagte er und teilte mir dann mit, daß die freien Berufe jetzt verhungern müßten. «Ausgerottet werd da Mittelstand, pfeilgrad ausgerottet», prophezeite er und stützte sich düster blickend auf die Feuerspritze.
    Fast alle Pessimisten behalten recht, manche gern, manche ungern. Dieser jedoch behielt unrecht. Wir gingen nicht unter. Michaels Roman wurde auch in der neuen Währung gekauft, ja er wurde so gut gekauft, daß der Autor beschloß, das Dachkämmerlein aufzugeben und sich den Anbau auf den Leib schneidern zu lassen.
    Wie seit Jahren alle Pläne, wurde auch dieser im Wohnzimmer gemeinsam besprochen. Mama, die sonst fast nur noch lag, hielt sich bei dieser Gelegenheit im Sessel sehr gerade, und nur ihr Kehrreim: «Kinder, macht ganz, wie ihr wollt», klang müde und gefiel mir nicht. In ihrem Ton schwang etwas mit, das mich Reichtum, Ruhm und Ehren für Michael ebenso heftig und eilig herbeisehnen ließ, wie ich einst das Erwachsenwerden, das Kriegsende und Michaels Rückkehr herbeigesehnt hatte. Ich wollte gerne ein wenig über unsere Verhältnisse leben, solange wir diese Verhältnisse noch mit Mama teilen konnten.
    «Ist es dir recht, Mama, wenn die Handwerker so bald wie möglich anfangen?» fragte Michael. Mama machte eine reizende, antreibende Geste, die an ihre sportliche Jugend unter Hunden und Pferden erinnerte. «Natürlich ist mir das recht», sagte sie. «Los! Je eher wir anfangen, desto eher sind wir fertig.»
    Es erhob sich ein tagelanges Getöse im Hause. Wolken von Ziegelstaub und Hobelspänen gingen langsam zu Boden und vermischten sich dort mit den Fußstapfen der aus dem vorfrühlingshaft aufgeweichten Garten hereintretenden Arbeiter. Eines Tages konnte man die große Schaufel nehmen und aus den offenen Fenstern nach draußen kippen, was drinnen hinderlich war. Dann kam die kleine Schaufel, dann der Besen, und schließlich konnte man damit beginnen, fünf-, sechsmal feucht aufzunehmen. Es war vorüber.
    Staunend trat die Familie zusammen und betrachtete die neueste Metamorphose des für einige Ferienwochen gebauten Holzhäuschens: Der Anbau war gehoben worden und unter den Brettern lag Heraklit, noch ehe wir das Große Los gewonnen hatten, auf das Bruder Leo hatte warten wollen. Die Innenwand war versetzt. Wir verfügten nun über ein richtiges Entree, in dem sich mehr als zwei Personen gleichzeitig den Mantel ausziehen konnten. Man biß sich jetzt zwar wieder auf die Zunge, weil der Boden einem nach dem jahrelangen Stufentraining unvermutet hoch entgegenkam, der neue Kachelofen aber heizte warm, und Michael konnte, ohne darunter lebende Angehörige zu stören, fast volle sechs Schritte hin- und wieder zurückwandern.
    Papa hatte das Herbeiströmen der Maurer und Zimmerleute mit einem amüsierten «Ah fein, endlich bauen wir eine Sternwarte», quittiert und sich dann um Details nicht mehr gekümmert. Nun aber kehrte er sofort ins Atelier zurück, um sich einen besseren Rock anzuziehen. Wir seien, bemerkte er, plötzlich so feine Leute geworden. Ähnlich drückte sich auch Bruder Leo in seinem Brief aus, in dem
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