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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach
Autoren: Isabella Nadolny
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etwa zehn Minuten mußte er den Rock ausziehen, setzte sich zufrieden an den kleinen Schreibtisch und begann einen Zeitroman. Der Vorname des Helden bot sich wie von selber an: Michael.
    Das Dachkämmerchen war nach acht Tagen nicht mehr wiederzuerkennen. Es gab keinen Kubikmeter Luftraum mehr ohne elektrische Leitungen, die sich zum Schreibtischlicht, zum Deckenlicht, zum Radio, zum Rasierapparat und zum elektrischen Kocher ringelten. Sie dienten, so wie die Dinge lagen, hauptsächlich dekorativen Zwecken, denn meistens war Stromsperre. Wenn das Licht anging, eilte Michael auf den Balkon, wohin er durch das Fliegengitter des Fensters noch eine siebente und letzte Verkabelung gelegt hatte. Dort auf der Rampe, auf der einst unsere Badeschuhe trockneten, stand der Grundstein zu seiner schriftstellerischen Karriere: die aus einem alten Marmeladeeimer, Asbest und Mamas Stricknadeln gebastelte Kaffeeröstmaschine. Die kleinen, grüngrauen Bohnen vom schwarzen Markt wurden darin ganz brauchbar und man schmeckte kaum noch, daß sie bei einem Schiffsuntergang an Land gespült worden waren. Die Tätigkeit des Röstens wiederum bescherte Michael stille Momente der Selbstbesinnung. Papa öffnete einmal die Tür zum Balkon, um ein Bild zum Trocknen zu stellen, sah ihn versunken die Kurbel seiner Gebetsmühle drehen und zog sich mit einem gemurmelten «Om mani padme hum» leise zurück.
    In unser allzu beschauliches Leben platzten gelegentlich Gäste, deren wesentliches Merkmal darin bestand, daß ich sie nie mit einem Auge gesehen hatte. Michael setzte sich bei ihrem Anblick eine verbindliche Miene auf und sagte: «Darf ich dir meinen Lagerkameraden, Herrn Sowieso vorstellen?» Die Herren zogen sich dann in den Garten zurück und spielten dort das Spiel: «Von Müller haben Sie nichts mehr gehört, wie?» — «Nein!» — «Und was macht Meier?» — «Keine Ahnung!»
    Mit manchen Menschen jedoch, die mit Michaels Lagerzeit zusammenhingen, hatten wir mehr gemeinsam als Erinnerungen an Appelle und Hunger. Mit ihnen saßen wir im Dachkämmerlein oder in ihren primitiven Bauernquartieren in der Umgebung Seehams auf dem Bett, auf dem Fußboden oder auf dem Not-Herd, lasen im Wilhelm Meister, sprachen von Mörike und Hölderlin und musizierten auf einem verstimmten Klavier, das aus dem Nebenzimmer eines Gasthauses stammte. Viele Werke eigener Produktion wurden vorgelesen, ermutigt, gelobt, getadelt und besprochen. Die Welt wurde auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Nur unserer Selbstbeherrschung war es zuzuschreiben, daß wir nicht jede Woche eine andere literarische Zeitschrift gründeten.
    Die Gastlichkeit dieses neuen Biedermeier beschränkte sich auf Pfefferminztee, Rübeneintopf oder trockenes Brot mit geriebenem Rettich, aber sie hatte einen großen Zauber. Ottilie von Goethe, die geborene Pogwisch, hätte ihre Freude an unserem Cercle gehabt, sie hätte höchstens vermißt, daß wir keine feinen Handarbeiten zu machen verstanden, aber wir hatten kein Material. Die Tatsache, daß viele von uns monatelang vom Verkauf eines alten Anzuges lebten, wurde mit einem Scherz abgetan. Solange die Währungsreform nicht kam, würde es schon noch eine Weile weitergehen.
    Sie schien sich aber jetzt mit Macht zu nähern, und wie jede unvermeidbare Operation drohte sie lange am Horizont. Wie hatte doch Michael in seinem Wirtschaftsvortrag gesagt: «Eines Tages wird es alles wieder geben, aber dann werden wir kein Geld haben, um es zu kaufen.»
    «Ob ich mir die Haare ganz kurz schneiden lasse?» fragte ich Mama zweifelnd, «dann muß ich bestimmt die ersten acht Wochen nach dem Tage X nicht mehr zum Friseur!»
    Mama lachte amüsiert, aber sie schrieb doch schnell noch einen Doppelbrief an die längst in der Versenkung verschwundene Tante Fanny, um die alten Briefmarken aufzubrauchen. Papa verkaufte laufend Bilder. Wenn er wieder eine Kollektion vom Atelier ins Wohnzimmer hinuntertrug, lachte er heimlich auf der Treppe und zupfte an seiner Nase. Drunten im Wohnzimmer saßen auf der Sitzbank einige Kohlenhändler und Schreinermeister, gaben sich ein kunstverständiges Air, besichtigten Bilder und nahmen dann zwei bis drei mit. Wenn das Gartentor hinter ihnen zugefallen war, legte Mama die Geldscheine mit ablehnendem Gesicht in die Kassette im Schreibtischschubfach und meinte halblaut, es sei schade um Papas Bilder — gerade das mit der Heide und den abendlich beleuchteten Birken sei so schön und erinnere sie an Rußland. «Laß es
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