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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach
Autoren: Isabella Nadolny
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Traktoren, die mich überholten und deren Besitzer nun zu den zehn Ster Holz an der Südwand noch zehn Ster an die Nordwand würden stapeln können.
    Papa, dem sein Enkel soeben den besten Vorkriegs-Dachshaarpinsel abgelistet hatte, um «mit diesem Bildschmierer ein feines Bild für Mami» zu machen, kam mir über die Wiesen entgegen und nahm ritterlich die Schleppe des Riesenastes auf, um sie mir nachzutragen. «Du bist schon wieder ziemlich gesund, wie ich sehe, ich muß dich loben», sagte er anerkennend.
    «Müd bin ich wie ein Hund, gut, daß es Abend ist», sagte ich und setzte mich zu Tisch.
    «Kind, geh heute mal früh schlafen. Heute ist wirklich viel geschehen», mahnte Mama. In diesem Augenblick ging draußen die Tür. Dicki hängte sich an die Klinke und schlüpfte neugierig hinaus. «Ein fremder Herr», meldete er. Ich erschrak ahnungsvoll, knüllte die Serviette neben den Teller und folgte ihm.
    Draußen stand Michael, auf erschütternde Weise unverändert, und meldete sich von der Odyssee zurück. Wir waren vor Ergriffenheit beide wortkarg und förmlich. Die vielen schlimmen Tage, die schneeflockenleicht zwischen uns niedergerieselt waren, waren nun zu einem Jahr geworden, einem Jahr, so grau und fest wie eine Betonmauer. «Wie geht es dir?»
    «Danke, gut. Und dir?»
    Der vielgeprüfte Dulder war nicht so mager, wie wir befürchtet hatten, ja, er mußte die letzten Monate sogar etwas besser gelebt haben als wir daheim in Ithaka. In seinem abgewetzten Rucksack befanden sich seltsam verbogene, selbstgefertigte Blechbecher und Löffel, Schlipse aus Rupfen und zwei nicht durchkorrigierte Novellen.
    «Warst du mal der Papi?» fragte das Kind vorsichtig.
    Der Sturm war vorüber. Das Leben konnte weitergehen.
     
     
     

11
     
    Hatte es überhaupt einmal eine Zeit gegeben, in der das Haus ohne Michael existierte? Selbstverständlich und sanft nahm es ihn wieder auf. Keine Amme brauchte an seinem Knie nach einer Narbe zu suchen, keine Freier waren totzuschlagen, wir konnten schon am nächsten Morgen dazu übergehen, die von mir heimgezerrten Äste zu verarbeiten. Es war, als wäre es nie anders gewesen.
    «Sei so gut und setz dich hier mal auf das Stammende», bat Michael, «es wackelt so beim Sägen.»
    Ich setzte mich und sah das frische Holzmehl unter Michaels Säge zu Boden rieseln. Es duftete stark nach Kräutern, Schlamm und Ufer. Während ich den Stamm beschwerte, hatte ich Gelegenheit, auch mich gleich zu beschweren, und zwar darüber, daß sich seit Kriegsende so gar nichts gebessert habe. Meine Worte bekamen durch das Vibrieren des Holzes etwas nachdrücklich Klagendes. Als der Ast zerkleinert dalag, klopfte Michael sich die Hände ab, griff nach Papier und Bleistift und bat mich auf die Eckbank im Wohnzimmer. Dort machte er mir anhand einer Zeichnung klar, daß keine Kurve eine Ecke macht und auch am Ende eines Abstieges noch eine Weile weiterfallen und sehr langsam umbiegen muß, wenn sie wieder steigen will. Es war die einzige Lektion in Wirtschaftslehre, die ich jemals erhielt, und sie machte mir großen Eindruck. Als ich mich von der Bank erhob, hatte ich aufgehört, die Normalisierung unseres täglichen Lebens für spätestens nächsten Montag herbeizuwünschen.
    «Wir müssen nun erst einmal sehen, wie wir weiterkommen», sagte Michael und spitzte den verwendeten Bleistift sorgfältig wieder an. «Kann ich dein Dachkämmerchen haben? Wir wollen versuchen, einen Ofen darin zu setzen.»
    «Kinder», rief Mama erschrocken, «das kann man nicht, der Kamin ist über drei Meter weit entfernt, das ist gegen die feuerpolizeilichen Vorschriften!»
    Michael beruhigte Mama auf das liebenswürdigste und holte den Hafner von Seeham, mit dem er die Rückwand und Decke meines ehemaligen Kleiderschrankes abklopfte. Michael brauchte keinen Kleiderschrank. Die alten Militärbreeches, die von seiner wohlassortierten Garderobe übriggeblieben waren, gingen mühelos an einen Haken. Der Hafner war ein stiller Mann von wenigen Worten. Er nahm ein Paar städtische Schuhe entgegen und besorgte dafür einen kleinen eisernen Ofen. Es wurde zuerst an der Wand gesägt, dann gemauert, gepflastert und geschmiert. Auf dem obersten Boden entstand, dicht neben Papas Farbenmühle, zu der sich nun noch die Tabakschneidemaschine in ihrer ausladenden Wucht gesellt hatte, ein sogenannter Fuchs, durch den führte das Rohr zum Kamin. Michael füllte den eisernen Ofen zur Probe bis obenhin mit Tannenzapfen und zündete sie an. Nach
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