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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach
Autoren: Isabella Nadolny
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ihnen», meinte Papa versöhnlich, «es macht ihnen Freude. Und nach der Währungsreform wird man Bilder nicht mehr kaufen, nicht einmal stehlen. Was habt ihr gesagt? Nächsten Sonntag soll der Tag X sein? Ist das nicht wieder so ein Gerücht?»
    Auch in der kleinen Kreisstadt begann sich Nervosität zu zeigen. Selbst die Bedürfnisanstalt hatte Hochbetrieb. Jeder wollte sein Geld noch auf legitime Weise loswerden. Trafen sich zwei alte Freunde auf der Straße, so behielten sie eine gewisse Reserviertheit im Gespräch. Einer schien vom anderen zu fürchten, daß er plötzlich in die Hosentasche griff und ihm eine Handvoll Geld anhängte wie bei dem Kinderspiel «Du hast den Letzten». Am Tage X wankte uns einer unserer Nachbarn ganz gebrochen entgegen. In später Stunde hatte ihm gestern einer telegrafisch tausend Mark zurückbezahlt, die er ihm fünf Jahre schuldig gewesen sei. Es sei eine Gemeinheit! Über Nacht war alles da. Die Gemüse schossen nur so aus dem Boden der beiden Gärtnereien, auf dem bisher so gar nichts hatte gedeihen wollen. Schlagartig sprang die Plombe ab, mit der die Hühner Seehams bis dato hinten zugesiegelt gewesen waren: es gab Eier in Fülle. Wir zählten an den Knöpfen ab, ob wir uns frischen Blumenkohl leisten und dafür lieber die Zeitung abbestellen sollten. Die Gerüchte überschlugen sich wie zur Zeit des amerikanischen Einmarsches. Michael konnte nicht in Ruhe arbeiten, alle fünf Minuten stürzte einer von uns zu ihm hinein: «Stell dir vor, die Schwarzmarktpreise für Butter sind binnen zwölf Stunden gefallen. Ein Pfund kostet nicht mehr zweihundert, sondern nur noch fünf Mark!»
    «Du, die Theater haben geschlossen, weil gestern für Fidelio nur ein einziger Platz verkauft worden ist!»
    «Kinder, wollt ihr ein Ferkel haben, ein lebendes Ferkel? Jemand hat mir für zwanzig Mark eins angeboten!»
    «Unsinn, woher sollen wir die Abfälle zum Füttern nehmen? Wenn’s so weitergeht, werden wir uns selber von Abfällen ernähren müssen.»
    Im Dorf hörte man ausschließlich Klagen. Diesmal halfen keine Beziehungen, kein Hamstern und kein Schummeln. Es war erbarmungslos alles nur noch ein Zehntel wert. Murrend ging die alte Lenzenbäuerin heim, ein Säckchen Pfennigstücke unterm Arm, die sie in jahrelanger Kleinarbeit zusammengespart hatte. Nun wollte sie plötzlich doch keiner. Der kinderreiche Familienvater hingegen, der in ihrem angebauten Austragshäusl wohnte, ging schmunzelnd hin und kaufte von seinen vielen Kopfquoten eine Musiktruhe, kanadisch Nußbaum, hochglanzpoliert, die noch nach Jahr und Tag die halbe Wohnküche verstellte. Die Schaufenster barsten von Fahrradreifen, Geschirr, Bettwäsche und Kleidern. Es war, als hätte sich unser alter, eselsohrverzierter Wunschtraumkatalog hinaus in die Wirklichkeit ergossen.
    Michael kam vom Gemeindezimmer zurück, legte die Kopfquoten der Eltern ins rechte Schreibtischschubfach im Wohnzimmer und steckte die unseren drei in seine Brusttasche. Er zwinkerte Mama ermutigend zu, die auf dem Sofa lag, holte mich aus der Küche und ging mit mir an den Strand. Mama war viel zu krank, als daß wir schwerwiegende Gespräche nicht gern in einer gewissen räumlichen Entfernung von ihr geführt hätten.
    «Ein paar Monate brauche ich noch mit dem Roman», sagte Michael und setzte sich neben mich in den Kies. Der See lag sanft gerauht und spielte in zweierlei Blau, über den Bergen segelten träge, abgeschliffene Föhnwolken wie milchige Fische. «Kein Verleger kann mich vorfinanzieren, dazu bin ich nicht bekannt genug, wir müssen also die Zeit auf irgendeine Weise überbrücken.»
    Wir saßen zufällig an der gleichen Stelle, an der früher immer die mannshohen Freudenfeuer für die Gäste gebrannt hatten. Woraus haben wir sie immer so schnell bauen können? Der Strand lag wie reingefegt von jedem Ästchen Reisig.
    «Wenn es nun aber doch kein Bestseller wird?» fragte ich beklommen und schälte einen frischen Weidenzweig. Michael kratzte in den Steinen, wählte sich einen flachen Kiesel und ließ ihn über die Wasserfläche schlittern.
    «Wir wollen es doch erst einmal versuchen», sagte er. «Eine Tankstelle eröffnen können wir ja immer noch. Die Autobahn ist ja so lang.»
    «Und womit überbrücken wir?» kam ich eigensinnig auf den Ausgang des Gesprächs zurück. «Mit dem Segen des Vaters», sagte Michael entschlossen und zog sein massiv-goldenes Zigarettenetui aus der Tasche. Es trug den Namenszug seines Vaters und den
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