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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach
Autoren: Isabella Nadolny
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er sich dafür entschuldigte, bei einer so wichtigen Gelegenheit zu fehlen. «Eure erste Seehamer Best-Sellerei scheint ja soweit ihre Früchte zu tragen», schrieb er. «Wie gern hätte ich das Heraklit mit eigenen Augen gesehen, das nun unter die Bretter gelegt worden ist. Habt Ihr endlich die verkehrtherum schließenden Fensterriegel ersetzt?»
    Ach, wir hatten andere Sorgen als richtig herum schließende Fensterriegel. Die winzig kleine Aufwärtsbewegung unserer Verhältnisse, die wir in geheimem Einverständnis zum Aufstieg aufgebauscht hatten, war das letzte, was Mama noch voll mit uns feierte und genoß. Von da an kam der Arzt täglich, gab ihr Spritzen und Pillen und fast nichts mehr zu essen. Aus den bei Kriegsende geplünderten Drähten legte Michael eine Nachtglocke von Mamas Bett zu dem meinigen. Je mehr Dicki mir entwuchs, der täglich mit Schultasche und Henkeltöpfchen für die Schulspeisung in die Volksschule Seehams hinaufwanderte, desto mehr wurde Mama zu meinem Sorgenkind. Ein unheimlicher und schmerzhafter Prozeß der Umkehrung unserer Rollen trat ein. Ich ertappte mich dabei, daß ich beim Aufschütteln ihres Kopfkissens die gleichen Scherzchen machte, die gleichen Worte brauchte, die sie einst in der Elisabethstraße an meinem Gitterbett gebraucht hatte, wenn meine Augen im Fieber die Muster der hochherrschaftlichen Stuckdecken abtasteten. Erst ganz zuletzt verlor sie das Bewußtsein der Realität. «Wo sind wir hier?» fragte sie. Mir war der Mund so trocken, als könne ich nie wieder ein Wort herausbringen. «Zu Hause», sagte ich dann, «einfach zu Hause», und zog die Decke über ihren Füßen glatt. In diesem Augenblick wußte ich, daß ich von diesem Ort nie mehr loskommen würde, von diesem Hause, das so unvollkommen war und so liebenswert wie alle Träume, deren Erfüllung man sich anders vorgestellt hatte. Während ich Pläne und immer neue Pläne gemacht hatte, war es zu meinem Leben geworden, das vielleicht einmal an der gleichen Stelle zu Ende gehen würde wie Mamas, die nun tapfer und in königlicher Haltung in meinen Armen starb.
    Am Morgen nach Mamas Tod wollte eine hilfreiche Frau aus dem Dorf die Uhren anhalten und die Spiegel verhängen. Schluchzend, aber energisch hinderte ich sie daran. Wie konnte ich ihr begreiflich machen, daß die Zeit weitergehen mußte, und daß ich die Spiegel brauchte, um zu sehen, wie ähnlich ich Mama geworden war? «Fürchtest du dich?» fragte ich Dicki, als ich ihn an der Hand zu Mamas Bett führte. «Nein, wovor?» fragte er. In meinem wunden, von Tränen verschwollenen Herzen war noch Platz für eine kleine Freude darüber, daß das Kind, seit ich es in der Leinentasche ins Haus getragen hatte, inmitten der Gegebenheiten der Natur aufgewachsen war und sich keine unterschwelligen Gruselvorstellungen in ihm hatten festsetzen können. Die Bäume flammten in Herbstfarben, als wir Mama beerdigten. Das alte Pferd des Fischers, eines der letzten, das noch nicht von Traktoren verdrängt worden war, zog den Sarg auf einem blumenbedeckten Wagen durch die Allee messinggelber Birken. Es sah aus, als wandere ein buntes Feuer die Straße entlang, aus Seeham hinaus zum kleinen Kirchhof, der noch aus der Pestzeit im 17. Jahrhundert stammte und auf dem nur wenige Leute sich einen Platz gesichert hatten. Der unsere lag an dem mit bemoosten Schindeln gekrönten Mäuerchen, und man sah von dort den See durch die Bäume schimmern. Auf die Waldwiese traten in der Dämmerung die Rehe. Keine menschliche Behausung war in der Nähe.
    Die Seehamer verliefen sich, die Autos, denen wir Papa und Dicki mitgegeben hatten, waren abgefahren. Michael, Leo und ich blieben allein. Der Totengräber war ein harmloser Dorftrottel, der murmelnd und vor sich hin lachend schaufelte. Wir schickten ihn fort und schaufelten selber. Das Geräusch vertrieb die Vögel nicht, die gerade jetzt ihr Abendlied singen wollten und sich auf das Glockentürmchen der kleinen Pestkirche setzten. Es war wunderbar tröstlich, jede Handvoll Erde, die wir warfen, persönlich zu kennen.
    Nach Bruder Leos Abreise folgten ein paar Tage fieberhafter Tätigkeit, wie sie im Gefolge aller amtlichen Familienereignisse, seien sie traurig oder fröhlich, einhergehen. Plötzlich war ich diejenige, die entschied, anordnete, kommandierte und als Vertreterin der ganzen Familie allen Rede und Antwort stand, die Teilnahme bekundeten. «Das effektive Sterben», hatte Papa in seiner stillen Art gesagt und seine Pinsel in
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