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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben
Autoren: P Enquist
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der Krankenstation von Bureå vertauscht worden sei. Er ist empört. Was kann daraus nicht alles zusammengereimt werden! Dass es in Wirklichkeit sein toter Bruder war, der kleine Tote im Sarg, der die Bücher geschrieben hatte; nein, dass er es war, der weltlich frivole Bücher geschrieben hätte, aber unter dem Namen des Bruders . Er ist empört darüber, dass zwei Verwechslungen vermischt werden.
    Auf jeden Fall: Er war ein anderer.
    Manche sagten, sie wüssten ganz sicher, dass Enquist vertauscht worden sei. Und er erbebte, aber er ermannte sich. Es schien jedoch das Gefühl von Unsicherheit zu verstärken, das er schon als Kind gehabt hatte. Man konnte nicht sicher sein. Er dementierte, doch nicht überzeugend. Er war ja nicht einmal selbst sicher. Er begann darüber nachzugrübeln, ob es wahr sein konnte, zuerst ein wenig im Spaß, dann wurde es unerfreulich.
    Manchmal erkennt man ja sich selbst nicht wieder.
    *
    Und die Mutter?
    Sie würde sicher nur schnauben, wenn er sie fragte, wie ein Pferd. Aber nie hätte er es über sich gebracht zu fragen, welcher von den Brüdern lebte, und welcher gestorben war. Und ob sie den ersten Totjungen gern gehabt habe, oder welchen von beiden sie lieber mochte.
    Die Lösung fand sich vielleicht in einem Notizbuch, das er nach ihrem Tod entdeckt hatte. Sie schreibt dort nach der ersten Entbindung: » Trotz allem, was geschehen ist, weiß ich doch, dass ich auf jeden Fall einmal Mutter war. « Sonst kein Wort. Es fiel ihm schwer, das zu deuten. Glaubte sie nicht, dass sie noch einmal gebären konnte? Oder wollte sie nicht? Hatte sie aufgegeben, also ihn selbst aufgegeben?
    Dass ich auf jeden Fall einmal Mutter war! Sie hatte wohl die Minute gemeint, die das Kind gelebt hatte. Es war die einzig plausible Deutung. Er versteht, dass Mutterschaft für sie etwas Wichtiges war. Verheiratet, aber kinderlos zu sein, war vielleicht eine Schande. Da war es besser, wenn es geboren wurde, aber später starb, an Krupp beispielsweise, wo sie blau wurden. Der Krupp hatte ja die sechs Geschwister von Großmutter Lova dahingerafft. Alle waren blau geworden.
    Aber die Minute, die der tote Junge gelebt hatte, machte gleichsam einen Unterschied für sie aus. Sie wurde dadurch wohl zur Frau.
    Sie hat seiner entschiedenen Meinung nach ein fast engelgleiches Aussehen, oder ist auf jeden Fall eindeutig schön.
    Diese Schönheit wird jedoch auf merkwürdige Art und Weise verzerrt, als er von einer lebensbedrohlichen Krankheit heimgesucht wird, nämlich dem Entfernen der Mandeln. Es soll in der Krankenstation von Bureå geschehen, und er erfährt, dass Doktor Hultman die Operation durchführen wird, der auch seinem Vater beigestanden hat, als dieser aufgeschnitten wurde und starb.
    Dieser Doktor, der seinen Vater getötet hat, beugt sich jetzt über ihn und senkt eine Stahlschlinge in seinen Hals hinab, die ihm die Mandeln herausreißen soll. So muss es auch für den Vater gewesen sein! Und der kleine Tote, der vielleicht er selbst war und der von ebendiesem Arzt herausgepresst wurde, während die Nabelschnur sich würgend um seinen zarten Hals schlang! Das grotesk verzerrte Gesicht dieses Arztes senkt sich herab, und jetzt reißt es Fleischstücke aus seinem schreienden Rachen. Er weiß, dass er der Dritte ist, der durch dieses Gesicht einer tödlichen Gefahr ausgesetzt wird: zuerst der auf den Namen Per-Ola getaufte Totjunge, dann der Vater, dann er selbst.
    Er wird jedoch zum Leben errettet und bleibt eine Woche auf der Krankenstation liegen. Es heißt, eine Epidemie drohe (Scharlach?), und Besucher dürfen sich den Patienten auf der Krankenstation Bureå nicht nähern. Die Mutter fährt jedoch jeden Tag mit dem Fahrrad in den Zentralort und klopft ans Fenster des Krankenzimmers. Ihr Gesicht ist vor Angst grotesk verzerrt, als versuche sie, zu dem in Not Befindlichen hineinzurufen, es ist weit entfernt von seiner gewöhnlichen Schönheit, jetzt vor Angst verzerrt, und bekräftigt seine von Furcht beherrschten Ahnungen über den Doktor des Todes.
    Sie kratzt mit den Fingern am Fenster, damit er sie bemerkt, als wäre sie ein ausgesperrter Vogel; mit den Flügeln, gegen die Scheiben.

Der Überlebende, soweit er denn ein solcher ist, wird im Dorf allgemein als lieb bezeichnet.
    Er hört es oft und passt sich erfreut an. Er ist lieb. Auf Fotos aus jungen Jahren strahlt er Milde und eine lichte Nettigkeit aus. Er findet es natürlich, dass er lieb ist, hat aber oft Tagträume, die davon handeln, wie es
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