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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben
Autoren: P Enquist
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wäre, wenn er nicht lieb wäre. Dann würde er mittels körperlicher Züchtigung bestraft, das war wohl bekannt. Er hat so etwas noch nicht erlebt, er weiß, dass die Mutter nur mit äußerster Selbstüberwindung und nur bei schweren Sünden zu körperlicher Züchtigung greifen würde.
    Er denkt darüber nach, wie es sich anfühlen würde. Weil Züchtigung also praktisch etwas ganz und gar Verbotenes ist, beginnt er sich danach zu sehnen, nur ein einziges Mal körperliche Züchtigung zu erleben. Es wird zu einer fixen Idee, einem fast unerreichbaren Ziel.
    Eines Tages erreicht er plötzlich das erstrebte Ziel. Er hat etwas getan; was er getan hat, verdrängt er später, aber die Mutter beschließt, ihn zu züchtigen, auf den bloßen Hintern. Schon nach den ersten Schlägen schreit er wie am Spieß, denn es zeigt sich, dass dies keine himmlische Erfahrung ist, die ihm den Eintritt in eine neue menschliche Landschaft ermöglicht, sondern dass es ganz einfach weh tut. Nur das. Er zieht schluchzend die Hose hoch, fällt bei der obligatorischen Betstunde vor Christi Angesicht auf die Knie und fühlt sich ungerecht behandelt und enttäuscht zugleich.
    Er hat die Mauer zu einer neuen Erfahrung durchstoßen und kann nur zusammenfassen, dass es wehtat. Keine existentielle Einsicht.
    Er ist lieb. Das scheint der Mutter ein Problem zu bereiten.
    Das zentrale Anliegen in ihrem religiösen und pädagogischen Unterricht besteht darin, das Kind Aufrichtigkeit zu lehren, also reinen Herzens und ohne Furcht seine Sünden zu bekennen. Wenn er das tut, wird ihm Vergebung zuteil. Sie meint, dass das Bekennen ihm sogar ein höheres Ansehen bei jenen verschaffe, die nicht zu bekennen wagen. Sie benutzt ebendieses Wort, Ansehen. Er begreift, dass die Masse der Menschen nur diejenigen respektiert, die zugeben: Ich habe mich geirrt. Die Selbstgerechten, die nie ihre Fehler einräumen, werden von der Masse der Menschen verachtet. Das Problem ist nur, dass er, weil er so lieb ist, nie etwas zu bekennen hat. Er ist fast klinisch sündenfrei. Das ist für sie beide ein Dilemma. Er soll jeden Samstag, bevor er ins Bett geht, eine Sünde bekennen, die er während der Woche begangen hat, und Jesu Vergebung erlangen. Das haben sie gemeinsam beschlossen. Vielleicht ist es mehr die Mutter, die es gemeinsam beschlossen hat, doch der Beschluss steht auf jeden Fall, und er bereitet ihm große Angst. Nicht weil es so schwer wäre zu bekennen. Aber weil ihm nichts einfällt, was er bekennen kann.
    Er sieht ein, dass er ganz einfach zu gut ist.
    Verzweifelt überlegt er, während der Samstag näher rückt, was er bekennen könnte. Er findet nichts, vielleicht weil es nichts zu finden gibt.
    Ihm kommt der Gedanke, bewusst zu sündigen, damit er etwas zu bekennen hat, aber dafür ist er einfach zu lieb, seine Nettigkeit ist wie in Beton gegossen; dies ist also auch keine Möglichkeit.
    Er löst schließlich das Dilemma, nachdem er drei Samstage hintereinander zu seiner und der Mutter Enttäuschung ohne Sünde trockenes Gras gekaut hat, indem er eine Sünde erdichtet . Er bekennt, unter Tränen, beim Einkaufen im Konsum in Forsen dem Kaufmann ein Bonbon gestohlen zu haben, als der gerade nicht hinsah. Die Mutter ist erschüttert durch das Bekenntnis, lobt ihn aber ausdrücklich dafür, dass er bekannt hat, und nach der Betstunde, als Jesus Christus dem Sünder ganz sicher vergeben hat, schlafen beide ruhig ein.
    Er hat jedoch nicht damit gerechnet, dass die Mutter in der folgenden Woche dem Kaufmann im Konsum, den sie gut kennt, weil beide aktiv im Vorstand des Abstinenzlervereins Blaues Band mitwirken, von der Sünde erzählt. Sie erzählt, dass das Kind ein Bonbon gestohlen hat.
    Da stürzt die Decke ein.
    Der Konsumvorsteher reagiert völlig verständnislos: Die beiden Bonbondosen werden hinter der Theke auf einem so hohen Regal aufbewahrt, dass das Kind sie unmöglich erreicht haben kann, wenn es nicht von himmlischen Mächten hochgehoben worden ist, und die Geschichte stellt sich als lügenhaft heraus. Die Mutter kehrt mit finsterer Miene zurück, sagt, dass er sie blamiert habe, und nach einem sehr kurzen Prozess gesteht das Kind, dass es gelogen hat. Kniefall und so weiter.
    Dies ist an einem Mittwoch. Als der Samstag kommt, hofft er natürlich, dass diese unter der Woche begangene und bekannte Sünde, also die Erdichtung eines gestohlenen Bonbons , ihm als Samstagssünde angerechnet werde; aber nichts da. Die Mutter meint jetzt, diese Sünde läge
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