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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben
Autoren: P Enquist
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steuerpflichtige Bauern. Sie bestellten fünfeinhalb Hektar Land. Beim Pflügen hatte man Beile und Pfeilspitzen aus Grünstein und einen Dolch aus Quarz gefunden, die als Beweis dienen konnten, dass es schon seit der Zeit um 3000 vor Christus eine Form von Besiedlung gegeben hatte.
    Er versucht es sich vorzustellen, doch ohne Erfolg. Aber er liebt es, sich als Teil der Urbevölkerung zu betrachten.
    In den Sommern kommt er zurück und versucht zu rekonstruieren. Der Bach war um die Mitte der vierziger Jahre noch nicht begradigt und immer noch schön, es gab Plötzen darin. Gleich unten beim Hobelwerk wusch man. Den Steg über den Bach gab es noch lange, nachdem das Hobelwerk, also die Maschinen, fortgebracht worden war.
    Er notiert: Der Steg ist fort.
    Die Blutegel waren das Interessanteste am Steg. Man konnte auf dem Bauch liegen und sie beobachten. Aber man musste aufpassen, wenn man badete, denn die Blutegel, die vielleicht Rossegel waren, doch das spielte keine Rolle, lagen zusammengerollt auf dem Grund, und dann rollten sie sich aus und schwammen mit schlingernden Bewegungen. Man sollte eigentlich Angst vor ihnen haben, denn es hieß, dass sie dem Menschen das Blut aussaugten, bis er fast unmächtig wurde und zu Boden sank, aber wenn man jeden Tag mit ihnen umging, wurden sie so etwas wie Spielkameraden, die man mit langen Stöcken überlistete und hochholte und auf den Steg legte.
    Wenn man sie tötete, gab es Schmierkram. Er beschloss deshalb, sie nicht zu töten, sondern gut Freund mit ihnen zu sein. Dann brauchte man ja keine Angst zu haben.
    Man konnte das Dorf auf unterschiedlichste Weise sehen, je nachdem, wo das Zentrum war.
    Das Natürliche war, dass der Milchbock und das Hobelwerk und die Blutegel das Zentrum des Dorfs ausmachten, und das freute ihn, ohne dass er sich deshalb großartig vorkam.
    Er befindet sich im Zentrum, behält aber seine Demut. Beim Milchbock kommt die Dorfversammlung manchmal zusammen, dann sind da unten an die zwanzig Männer, keine Frau, und es hat den Anschein, als würden erregte Diskussionen geführt, die fast immer mit irgendeiner Schweinerei zu tun haben, deren sich die Meierei in Bureå schuldig gemacht hat. Es geht um irgend etwas wegen der Rücksendung von Magermilch. Die Bonzen in der Meierei haben einen unverzeihlichen Rechtsbruch begangen. Schwer zu verstehen. Er fragt die Mutter, aber sie schnaubt nur.
    Die Mutter ist ansonsten eine große Freundin von Versammlungen, zumindest solchen, die im Bethaus abgehalten werden. Über die hat sie die Kontrolle. Die Treffen am Milchbock ärgern sie, weil sie weltlich sind und weil keine Frauen dabei sind. Für sie ist das Bethaus das Zentrum; dass das Hobelwerk, der Milchbock und die Blutegel ein Zentrum wären, wird sie gewiss mit Bestimmtheit abstreiten.
    Weil es die Frauen sind, die in allen Familien das Sagen haben, meint sie, die Treffen am Milchbock seien ein weltlicher Schein. Theater beinahe, weil die wirkliche Macht im Dorf bei den Frauen lag, die jedoch nicht beim Milchbock erumstehe un schreie tue.
    Und diese Empörung beim Milchbock, wenn die Mannsleut’ schreie tue, dass es jetzt genug sei und dass ein Milchstreik nötig wäre – daraus wurde ja nie etwas. Am nächsten Tag war es wieder ruhig. Aber wenn diejenigen, die wirklich die Entscheidungen trafen, also in den Familien, wenn diese Frauen dabei sein dürften! Dann käme vielleicht etwas dabei heraus. Zumal diese ja wussten, wie die Wirklichkeit aussah. Und es gewöhnt waren zu schalten und zu walten.
    Der Milchbock war auch fort.
    Er stellt im August 2003 fest, dass der See sich zurückgezogen hat. Vom grünen Haus aus ist er fast nicht mehr zu sehen. Damals in den dreißiger Jahren fuhren sie Schlittschuh bis zum Hobelwerk. Einmal jedes Jahr tat man sich zusammen und dünnte das Unterholz aus, damit der von allen so geliebte und bewunderte Wasserspiegel klar schimmern konnte . Jetzt ist das Unterholz undurchdringlich. Es ist, als sei das Auge des Dorfs zugewachsen, als seien die Augenlider verklebt. Sonst ist es schön.
    Man fährt jetzt in zwanzig Minuten in die Stadt. Die Gärten gepflegt.
    Das Dorf ist uralt, er möchte es sich gern als moosbewachsenen Baumstumpf vorstellen.
    Es atmet jedoch, sehr langsam, fast mühsam, wie eine sterbende Frau, ungefähr wie die Mutter in den Stunden, bevor sie im Oktober 1992 vom Erlöser heimgeholt wurde und er bei ihr saß und ihre Lippen befeuchtete. Als er das Dorf als Erwachsener besucht, ist alles verändert;
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