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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben
Autoren: P Enquist
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ungemein. Zutiefst kritisch nimmt sie zur Kenntnis, dass Erlander, der nur fil. kand. ist , sich Ohlin gegenüber mausig macht. Sie deutet nie an, dass sie letzteren schön findet (einmal entfährt ihr das Wort »schick«), doch das Kind versteht bald, dass ihre fast religiöse Verehrung für diesen Ohlin Untertöne hat. Viele Jahre später räumt sie, hart bedrängt, ein, dass der tote Vater Sozialdemokrat war. Aber es bestehe kein Grund, sich deshalb aufzuregen, meint sie. Vor seinem Tod wurde er ja trotz allem erweckt . Deutlicher wird sie nicht. Da er im Sommer als Stauer im Hafen und im Winter als Holzfäller gearbeitet hat, findet sie es natürlich, dass er dem Druck der Arbeitskollegen nachgegeben hat. Sie lässt durchblicken, dass sie ihn wegen seiner politischen Zugehörigkeit nie getadelt hat. Als der Sohn erwachsen wird und erzählt, dass er selbst Sozialdemokrat ist, seufzt sie schwer, sagt jedoch – sarkastisch oder humorvoll?, er kann nicht richtig klug daraus werden –, ja, da würde dein Vater sich freuen .
    In jeder Klasse, die sie unterrichtet, bildet sie einen Chor. Immer dreistimmig. Dies ist ihr Zuhause, also der Gesang. Ihre Sympathie für die Folkparti ist eher von prinzipieller Art, nicht gefühlsbedingt.
    Im Alter von siebenundachtzig Jahren und nach drei leichteren Schlaganfällen wird sie bei Dunkelheit und starkem Schneefall in südlicher Richtung gehend auf der Küstenstraße angetroffen. Sie geht in der für sie charakteristischen wiegenden Art und Weise und hat nur einen Fausthandschuh dabei. Sie schreitet energisch aus, als wäre sie auf dem Weg nach Umeå oder Sundsvall.
    Es ist sieben Uhr morgens am ersten Weihnachtstag. Als man sie aufhält, sagt sie ärgerlich, sie sei auf dem Weg zum Ortsverein der Folkparti in Bureå, der seine Jahresversammlung abhalte, und sie habe keineswegs die Absicht, fernzubleiben. Man geleitet sie zurück und macht ihr keine Vorwürfe, denn ihr barsches Wesen ist allgemein bekannt und nicht einmal jetzt wagt jemand, ihr zu widersprechen.
    Dies ist ihr letzter, wenngleich abgebrochener politischer Einsatz. Sie hat das Norran abonniert, die »freisinnige« Länszeitung. Das bedeutet sozialliberal.
    Aber welcher Klasse gehören sie an, die Mutter, der Vater und er selbst?
    Irgendwann im Jahr 1944 wird im Kirchspiel Bureå die Schulspeisung eingeführt, was bedeutet, dass die Kinder in der Schule ein kostenloses Mittagsessen erhalten. Dies ist jedoch im ersten Jahr an eine Bedürftigkeitsprüfung gebunden, und mittels einer wirtschaftlichen Analyse wird festgestellt, dass alle Kinder in Hjoggböle ein Anrecht auf diese Mahlzeit haben, bis auf zwei, die der privilegierten Oberklasse angehören. Betroffen sind die beiden Lehrerinnen (»der Kuchen des Staates ist klein, aber sicher« und so weiter) – was zur Folge hat, dass er und Thorvald, der Sohn der Vorschullehrerin Ebba Hedman, kein Essen bekommen. In jeder Mittagspause ziehen die Schüler hinauf in den provisorisch eingerichteten Speisesaal im Obergeschoss der Schule, wo seine Tante Vilma – die später in den Streit um die vertauschten Kinder, die Enquistsche Vertauschgeschichte, verwickelt wird – gute und nahrhafte Fleischsuppe serviert.
    Die beiden Oberklassenkinder, Thorvald und er selbst, müssen im unteren Flur auf dem Fußboden sitzen und Butterbrote mit Margarine essen, die er hasst, und Magermilch trinken.
    Er fühlt sich an den Pranger gestellt, schämt sich und kocht vor Empörung. Es ist ein Glück, dass er als lieb bezeichnet wird. Die satten Kinder strömen nach dem Essen mit hellem Lächeln an den beiden Lährarinn’jongs vorbei. Seine Auffassung von den Klassengegensätzen in der Gesellschaft steht damit fest. Nur begreift er nicht, dass das Unterklassengefühl, das er sich aneignet, auf einem Missverständnis beruht; er ist Oberklasse.

Er war nicht der einzige, der sich die Frage stellte, warum es ging, wie es ging. Das Dorf erforschte auch sich selbst. Es musste doch ein Ganzes geben. Sonst wurde man ja verrückt.
    Schweden ist in dieser ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Archipel von Tausenden im Waldmeer verborgenen kleinen Dörfern, Hjoggböle nicht ausgenommen. Das Dorf pflegt jedoch seine Geschichte, und die ist lang. Endlose Berichte über Armut, die besiegt wurde. Auf der Dorfversammlung am 1. Mai 1885 wurde beschlossen, dass die Witwe Lovisa Andersson zur Vermeidung von Mietkosten mit ihren Kindern im Dorf von Haus zu Haus geht. Einen Tag pro steuerpflichtige Hufe
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