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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River
Autoren: Edith Wharton
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Provinzzeitung erschöpft.
    Doch in ihm steckt ein wirklicher Schriftsteller, ein Poet, der seinen Platz in der Kunst sucht und erst allmählich entdeckt, dass dazu auch gehört, sich im literarischen Betrieb zurechtzufinden. Gedichte schreibt er, Vignetten in Prosa, ist immer unterwegs zum«großen Werk». Er verachtet Kompromisse, was die künstlerische Qualität seiner Arbeiten angeht, möchte nicht das schreiben, was man von ihm erwartet, sondern das unverwechselbar Eigene schaffen. Er bleibt freilich angewiesen auf Héloïse’ Kritik an seinen poetischen Stimmungsbildern und auch auf Brotarbeiten. Er wirkt wie ein entfernter Verwandter des Stephen Dedalus, dessen«Porträt»James Joyce 1916 erzählerisch entworfen hatte. Doch anders als Joyce’ Stephen plagen Whartons Vance keine religiösen Gewissensfragen. Sein Vokabular kennt das Wort Sünde nicht, wohl aber das Problem der Schuld – vor allem gegenüber seiner ihm geistig nicht gewachsenen, immer kränkelnden Frau Laura Lou.
    Fragte man in diesem Roman nach einem Schlüsselmoment, gerade auch in der Entwicklung des Autors Vance Weston, dann fände er sich in seiner Vertreibung aus der inspirierenden Idylle von The Willows; ein Missverständnis löst sie aus, die der Vertreibung aus dem Paradies gleicht – und dem Sturz in die Hölle: Vance sucht sein Heil in der zeitgenössischen Metropole Amerikas schlechthin. Was Wharton daraufhin in ihrem Roman entfaltet, ist ein Panorama des New Yorker Literaturbetriebs um 1920, wie es sich anschaulicher und erfahrungsgesättigter nicht denken lässt. Wharton bestätigt dabei ihren Ruf als eine scharf beobachtende, geradezu literatursoziologisch befähigte Erzählerin, die von den literarischen Vermarktungsstrategien bis zu Abwerbungsversuchen, der hemmungslosen Kommerzialisierung des Literaturlebens bis zu halbseidenen Machenschaften hinter den Kulissen (Stichwort: Vergabe von Literaturpreisen) so gut wie alles bietet, was seither in dieser Branche gang und gäbe geworden ist. Die luziferische Mrs Pulsifer, halb Mäzenin, halb Verführerin, bleibt letztlich ebenso undurchsichtig, was ihre Motivation angeht, wie der Verleger Tarrant oder der Lektor Rauch. Im Grunde stellt Wharton den New Yorker Literaturbetrieb als ein Netz von insider dealers dar, die neue Talente schlicht ausbeuten und ruinieren.
    Dagegen erweist sich Héloïse Spear auch in New York als« Türöffnerin», die als zweite, mindestens gleichwertige Heldin neben Vance Weston zu nennen ist. Héloïse repräsentiert in einem Amerika, das noch immer von Ralph W. Emersons Konzeption der charismatischen Representative Men bestimmt wurde, einen neuen Typus Frau, der um Selbstbestimmung ringt und Selbstverwirklichung sucht – und der sich doch oft in durch traditionelle Rollenmodelle bedingten Zwangslagen befindet. In Héloïse’ Fall bedeutet dies: Um ihren Eltern zu helfen, heiratet sie den vermögenden Verleger Lewis Tarrant, obwohl sie insgeheim Vance Weston liebt. Héloïse, meist Halo genannt («Name und Spitzname sind beide gleich lächerlich», sagt sie von sich), verdankt ihren Namen – Whartons tiefe Liebe zur französischen Kultur spiegelt sich auch darin – Rousseaus La nouvelle Héloïse . Doch ihrem Wesen nach unterscheidet sie sich grundlegend von Rousseaus betont empfindsamer Julie. Beeindruckend ist, wie Wharton das Spröde dieser Frau beschreibt, ihre Mischung aus Entschlossenheit und Unentschlossenheit; sie ist keine Frauenrechtlerin, aber sie besteht auf dem Recht auf Selbstbestimmung. Wharton wird einen zweiten, mythisch aufgeladenen Roman benötigen, um die ganze Tiefe der Beziehungsproblematik zwischen Halo und Vance auszuloten. Am Ende dieses zweiten Romans erwartet Halo – nach seelischen und räumlichen Irrfahrten wieder zurück in The Willows, wo sie nach Art des Voltaire’schen Candide ihren Garten kultiviert – ein Kind von Vance.
    Im Roman Ein altes Haus am Hudson River freilich erleben wir Halo als eine zwischen Verstand und Gefühl oszillierende junge Frau, die nicht so recht weiß, wohin mit ihren Talenten. Ihr Intellektualismus beeindruckt; er befähigt sie, literarische Texte sicher zu beurteilen. Sie wagt ein frühmorgendliches Schäferstündchen mit Vance auf einer idyllischen Anhöhe, wo dieser ihr seine Verse vortragen darf, wenngleich die Prosa der Erzählerin oft poetischer klingt als das, was der junge Vance an Gedichten produziert. Man nehme etwa diesen Satz:«Die Sommerdunkelheit raschelte in der nahenden
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