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Ehrenwort

Titel: Ehrenwort
Autoren: Ingrid Noll
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ohnedies alles wieder rückgängig gemacht werden. Warum nicht einfach ein Treppenlift? Im Fernsehen habe er schon mehrmals darüber gestaunt, wie nützlich eine solche Einrichtung für Gehbehinderte sei.
    Max suchte übers Internet entsprechende Firmen heraus, ließ sich Angebote schicken und war nach dem Einbau doch verwundert, wie hässlich und zugleich praktisch das Ergebnis ausfiel, denn es war fast eine kleine Zahnradbahn entstanden.

    Schon im September war der Umzug mit Hilfe einiger Profis und eines Krankenwagens über die Bühne gegangen. Alle Probleme waren damit jedoch nicht gelöst.

    Willy Knobel hatte sich nicht nur gegen architektonische Veränderungen gesperrt, sondern wollte auch die Einrichtung aller Zimmer so erhalten, wie er es seit vielen Jahren gewöhnt war. Max mochte den Großvater ungern darauf hinweisen, dass ihm das Haus nicht mehr gehörte, aber man konnte ihm schließlich nicht zumuten, im früheren Bett seiner Großmutter zu schlafen. Jenny, die zwar nicht allzu viel Hausrat besaß, wollte unter keinen Umständen ihre eigene Habe auf den Sperrmüll stellen, um in einem altväterlichen Gästezimmer wie eine Fremde untergebracht zu werden.
    Max beschloss, erst einmal ohne sie einzuziehen, um dann Tag für Tag ein anderes großelterliches Möbelstück auf den Speicher oder in den Keller zu wuchten; den Protest des Alten überhörte er mit einem Lächeln. Es gefiel ihm allerdings wenig, dass er nicht das gesamte obere Stockwerk für sich hatte und das Schlafzimmer des Alten direkt neben seinem lag.
    Vorläufig war Jenny also noch nicht umgezogen, wenn sie auch häufig bei Max übernachtete. Ohnedies lief ihr bisheriger Mietvertrag bis Ende Oktober. Bei dem neuen Pflegedienst, der jetzt für Willy Knobel zuständig war, hatte sie eine Stelle in Aussicht. Dort wollte auch Max demnächst ein Praktikum absolvieren.

    Im elterlichen Haus war unterdessen friedfertige Entspannung eingetreten. Harald und Petra erlebten sogar die Andeutung eines zweiten Frühlings, waren abends schon mehrfach essen sowie einmal im Kino gewesen und fühlten sich insgesamt wieder freier und weniger belastet. Mizzis ehemaliges Zimmer wurde tapeziert und erhielt einen wertvollen, antiken Teppich, den Petra bei einer Auktion ersteigert hatte. An Weihnachten würden ja beide Kinder willkommene Gäste sein, Max konnte dann wieder in seiner alten Höhle und Mizzi im Balkonzimmer schlafen. Der Alte würde unterdessen sicherlich von Jenny versorgt.

    Petras Freundinnen hatten off über das Empty-Nest-Syndrom geklagt: Über die trostlose Situation nach dem Verlassen der flügge gewordenen Jungvögel, über den Verlust des Selbstwertgefühls, über Schlaflosigkeit und Depressionen in einer kritischen Phase, die oft parallel zum Klimakterium auftrat. Ein Wechselbad von Trauer und Hoffnung, das kaum auszuhalten sei.
    Nichts von alledem konnte Petra an sich selbst beobachten. Max ließ sich gelegentlich von seiner Mutter zum Abendessen einladen, brachte aber niemals seine Freundin oder schmutzige Wäsche mit, sondern in einem Fall sogar ein rosa Alpenveilchen. Petra hatte ihm beim Umzug geholfen, hatte ihre Putzfrau nach Dossenheim geschickt und ziemlich viel Geld zugebuttert. Jetzt konnte sie das angenehme Gefühl genießen, nicht mehr ständig für drei oder vier Personen sorgen zu müssen und sich ganz ihrem Beruf und dem kleiner gewordenen Haushalt widmen zu können. Das Beste aber war, dass der Alte das Haus nicht mehr vollqualmte und das Badezimmer wieder ihr gehörte.

    Als schließlich Jenny das leergeräumte Gästezimmer bezog, hätten eigentlich alle Bewohner des Dossenheimer Hauses halbwegs zufrieden sein müssen. Der Alte lag nun wieder in seinem gewohnten Schlafzimmer im Obergeschoss, wenn auch im Pflegebett der Krankenkasse; im Raum daneben hatten Max und seine Liebste ihr Lager aufgeschlagen. Das ehemalige Gästezimmer wurde von Jenny als ihr ganz privates Reich eingerichtet, Max verzog sich dagegen häufig in die Mansarde, wo er Computer, Musikanlage und Fernseher installiert hatte. Das gesamte Erdgeschoss wurde allerdings vom Großvater blockiert, er hockte wieder ohne Kopfhörer im Ohrensessel vor dem Bildschirm, verursachte ohrenbetäubenden Lärm und schlürfte selbst die Suppe bei laufendem Programm - bloß das Frühstück nahm er im Bett ein.
    Kurz vor Weihnachten stürzte der Alte bei einem Versuch, den Lift ohne Hilfe zu entern, und blieb hilflos liegen, bis sein Enkel nach Hause kam. Zum Glück hatte er
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