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Ehrenwort

Titel: Ehrenwort
Autoren: Ingrid Noll
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Matratze gebunkert haben, sie suchen vergeblich nach Fotos, Briefen oder Bargeld und erinnern sich nicht, wo sie es diesmal hingesteckt haben. Die Pflegerinnen sind an Verdächtigungen gewöhnt, aber Frau Künzle, die sich so viele Jahre lang für Opa und Oma abgerackert hat, ist bis ins Mark getroffen.«
    Wenn das Geld noch in seinem Besitz gewesen wäre, hätte Max es heimlich wieder hingebracht.
    Seine Mutter meinte noch: »Wir müssen uns wohl bald einmal eine andere Lösung einfallen lassen.«
    »Eine Polin«, schlug Max vor.
    »Bei seinen Vorurteilen gegen Ausländer? Aber du kannst ein gutes Werk tun«, meinte sie und schob ihrem Sohn einen Fünfziger hin, »und ihm einen Korb mit Wäsche bringen. Vielleicht könntest du ihm auch sonst ein bisschen mehr unter die Arme greifen.«
    »Man müsste mal die Wände weißeln«, sagte Max und dachte dabei an einen größeren Auftrag.
    Aber seine Mutter fand, es lohne sich nicht, im Grunde dürfe der Opa überhaupt nicht mehr allein wohnen.
    »Okay«, sagte Max, »dann kann er ja in Mizzis Zimmer einziehen.«
    Seine Mutter lachte nur. »Bring das mal deinem Vater bei!«
    Der hoffte nämlich immer noch, dass seine Tochter ins elterliche Nest zurückkehren würde.
    1975 zur Silberhochzeit, hatte der Alte seiner Frau einen Pelzmantel geschenkt, der allerdings nicht ganz neu war. Damals kursierte gerade der Kalauer: »Wenn einer von uns beiden stirbt, dann ziehe ich nach Mallorca.« Insbesondere die Frauen fanden das witzig, weil sie in der Regel ihre Männer überlebten. Willy wäre es nie in den Sinn gekommen, im höheren Alter die Heimat zu verlassen und sich auf eine fremde Sprache einzustellen. Er wäre aber auch nicht auf die Idee gekommen, dass seine Ilse vor ihm sterben könnte. Schließlich war sie fünf Jahre jünger und von robuster Gesundheit, wie er jedenfalls glaubte. Welch grausame Vorstellung, dass sie in ihrer Todesstunde ganz allein gewesen war. Womöglich hatte sie drei Tage lang im Nachthemd auf den kalten Fliesen gelegen, konnte sich nicht bewegen, nicht um Hilfe rufen, während ihr Mann mit den letzten mobilen Klassenkameraden ein Abituriententreffen feierte. Als er zurückkam, fand er eine Tote.

    Damals war er noch fit genug gewesen, um allein zu verreisen. Das würde er sich heute gar nicht mehr zutrauen, er konnte kaum begreifen, wie schnell er in der letzten Zeit gealtert war. Das hatte man davon, wenn einem plötzlich die Frau wegstarb. Ideale Partner waren sie zwar nie gewesen, denn er wünschte sich eigentlich eine Frau, die auch seinen intellektuellen Ansprüchen genügte. Trotzdem hatte er sich nie beklagt. Ilse hatte andere Vorzüge, war eine Sanfte, die nie laut wurde oder ungehörige Ausdrücke in den Mund nahm. Nach über fünfzig Ehejahren schwiegen sich Paare sowieso die meiste Zeit an, immerhin besser als Streit. Vor allem aber waren Willy und Ilse ein perfektes Gespann gewesen. Sie hatte keinen Führerschein, konnte keine Überweisungsformulare ausfüllen und hatte keine Ahnung, wie hoch seine Rente war. Ilse bekam pünktlich ihr Haushaltsgeld abgezählt und war es zufrieden. Willy konnte wiederum weder kochen noch bügeln und hatte sich nie um die zahlreichen sozialen Kontakte gekümmert, die Ilse über Jahre hinweg aufrechterhielt.
    Nach Ilses Tod hatte der Alte gelernt, ein Fertigprodukt in die neue Mikrowelle zu schieben und Tee oder Kaffee zu kochen. Leider gab es nicht mehr - wie in der Nachkriegszeit - ein eingemachtes Huhn zu kaufen, was nach seiner Meinung die einzige gute amerikanische Erfindung war. Wenn man die Riesendose öffnete, glitschte der sülzige Vogel mit einem schmatzenden Geräusch heraus, und die Knochen waren so weich, dass man sie fast mitessen konnte. Manchmal sehnte er sich sehr nach diesem pampigen Mahl.
    Nach Ilses Tod besorgte seine Putzfrau auch den Abwasch und die Wäsche, zuletzt kam sie sogar dreimal in der Woche. Allerdings hatte ihm seine Frau schon vor Jahren verboten, dieses Wort zu benutzen, »Frau Künzle« oder »unsere gute Fee« sollte er sagen.
    Am meisten vermisste er seine Frau an warmen Tagen, wenn sie den Frühstückstisch auf der Terrasse gedeckt hatte. Ihre ganze Liebe galt dem Steingarten, wo sie Stunden um Stunden herumzupfte. Es hatte ihn immer verwundert, wie sehr sie sich über ein winziges Blümchen freute, wie glücklich sie über eine Eidechse auf den warmen Steinen oder ein Eichhörnchen in der Tanne sein konnte. Wenn der Wind gelbe Blätter von den Bäumen wehte, rief sie
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