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Ehrenwort

Titel: Ehrenwort
Autoren: Ingrid Noll
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Rat.«
    »Opa könnte doch bei uns wohnen«, sagte Max.
    »Du bist wohl verrückt geworden! Wer soll sich denn um ihn kümmern? Deine Mutter ist berufstätig, ich bin sowieso den ganzen Tag nicht zu Hause. Und du solltest gefälligst dein Studium etwas ernster nehmen.«
    Bei diesem Reizwort wollte Max schleunigst den Raum verlassen, wurde aber vom Vater zurückgehalten.
    »Papa«, sagte Max, »du hast gut reden! Dieses Studium ist absolut sinnlos. Ich war zwar in der Schule nicht schlecht in Englisch, weil ihr mich in den großen Ferien so oft nach Australien geschickt habt. Aber das hat nichts mit diesem bescheuerten Beowulf zu tun, mit dem man in der Uni gequält wird.«
    Seine Eltern tauschten fassungslose Blicke. Gerade als Max endlich gehen wollte, begann seine Mutter mit ihrer sanftesten Stimme: »Mäxchen, bei jeder Ausbildung gibt es Teilgebiete, die einem weniger liegen und nur aus reiner Paukerei bestehen. Beim Medizinstudium müsstest du dich bis zum Physikum mit Anatomie und Biochemie herumplagen! Man darf doch nicht nach zwei Semestern bereits aufgeben!«
    Seine Mutter benutzte ihre Pastorinnenstimme, wenn es um seine Zukunft ging, und sein Vater klang wie ein weinerlicher Frauenarzt - als ob sie es mit einem durchgeknallten Junkie zu tun hätten.
    »Ihr versteht überhaupt nichts«, sagte er und machte, dass er aus dem Haus kam. Wohin er fahren wollte, wussten weder seine Eltern noch er selbst, doch sein treues Auto umso besser. Zielstrebig brachte es ihn in die Brennnessel, sein Lieblingskino.

3

    Nach der Operation kam der Alte für einen halben Tag auf die Intensivstation und erst am Nachmittag wieder in sein Bett. Er schlief, als Petra und Harald ihn am frühen Abend besuchten.
    »Bis vor einer Stunde hing er noch am Tropf«, sagte der Zimmergenosse und erzählte, dass er selbst ein neues Hüftgelenk erhalten habe, und das schon zum zweiten Mal. »Es geht alles vorüber«, fügte er noch mürrisch hinzu.
    Die Besucher saßen eine Weile neben dem Alten und betrachteten sein blasses Gesicht, das ein wenig wie eine Totenmaske wirkte. Völlig überraschend öffnete Willy auf einmal die Augen, blinzelte seine Schwiegertochter an und murmelte: »Ilsebill!«
    Petra und Harald verabschiedeten sich. Im Flur sprachen sie mit der Ärztin.
    »Es ist alles nach Plan gelaufen«, meinte die Chirurgin. »Wenn der Heilungsprozess gut voranschreitet, können wir ihn bald in eine Senioren-Reha-Klinik verlegen. Dort wird er wieder laufen lernen.«
    »Und wie lange wird das alles dauern?«, fragte Harald. Etwa vierzehn Tage im Krankenhaus, zwei bis drei Wochen Reha, erfuhr er. Aber das könne man heute noch nicht so genau beurteilen. Auf alle Fälle werde es nötig, dass der Patient angesichts seiner fast neunzig Jahre in ein betreutes Altenheim umziehe. Man solle am besten schon jetzt einen Antrag auf Pflegestufe zwei stellen, damit sich die Krankenkasse an den Kosten beteilige.
    »Das war vorauszusehen«, sagte Petra, als sie wieder im Auto saßen. »Du hast das Problem viel zu lange vor dir hergeschoben. Am besten verkauft Vater das Haus, dann springt genug Geld für eine anständige Seniorenresidenz heraus.«
    »Und mein Erbe geht den Bach hinunter«, sagte Harald. »Es muss ja nicht gleich das Augustinum sein, das Kreispflegeheim tut es auch.«
    »Er wird sich schwertun«, sagte Petra, »er mag keine fremden Menschen um sich, er kann sich keine neuen Namen merken, er lässt sich nur sehr ungern anfassen - Max ist der Einzige, bei dem er es duldet.«
    »Mein Gott, da wird er sich eben dran gewöhnen müssen«, sagte Harald.
    Am nächsten Tag machte Max die Visite. Wie erwartet war sein Großvater erschöpft, noch benommen, aber auch grantig, und wollte auf der Stelle nach Hause gebracht werden. So richtig vom Leder ziehen konnte er allerdings nicht, seine Stimme war angeschlagen.
    »Was soll ich dir beim nächsten Mal mitbringen? Etwas zum Lesen? Und ein bisschen Obst? Darfst du überhaupt schon alles essen, Opa?«, fragte Max.
    Aus dem anderen Bett ertönte Hermann Schäfers höhnisches Lachen: »Ach, hör'n Se auf mit dem Essen! Wir kriegen sowieso nichts runter.«
    »Ilse wird mir etwas kochen«, krächzte der Alte. »Sie war heute schon dreimal hier. Zum Nachtisch hat sie mir kalifornische Dosenpfirsiche versprochen.«
    Angesichts dieser erfreulichen Aussicht schloss er die Augen und schlief ein. Der zahnlose Mund stand weit offen.
    Max schielte befremdet zum Bettnachbarn hinüber, aber der schien sich nicht
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