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Ehrenwort

Titel: Ehrenwort
Autoren: Ingrid Noll
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Grunde liebte Max seine Schwester, wünschte ihr aber trotzdem von Zeit zu Zeit die Pest an den Hals. Im Gegensatz zu ihm war Mizzi eine gute Schülerin gewesen, hatte sofort einen Studienplatz bekommen und sammelte jetzt bereits Material für ihre Diplomarbeit. Aber sie ließ sich kaum mehr zu Hause blicken und überließ es Max, den Eltern die Stange zu halten. Überhaupt pflegten sich die Frauen der Knobels gern vor familiären Pflichten zu drücken - seine Tante Karin lebte in Australien, seine Schwester in Berlin. Nur seine Mutter war anders. Doch auch sie verschwand sechs Stunden am Tag in ihrem Buchladen, organisierte zwar schwungvoll den Haushalt, doch Zeit für ihn hatte sie selten.
    Irgendwie blieb alles immer gleich in einer Familie. Sein Großvater hatte zwei Kinder - Tochter und Sohn -, sein Vater ebenfalls. Beiden war die Tochter frühzeitig abhandengekommen, beide hielten ihren Sohn für einen Versager. Sein Papa hatte den eigenen Vater beklaut, Max hatte sich wiederholt bei Opa und Papa bedient. Ein Fluch, dachte er, dagegen ist man machtlos. Irgendein Urahn hatte vermutlich als Dieb am Galgen gezappelt und spukte jetzt aus Rache in den Genen seiner Nachkommen herum.
    Mizzi hatte recht, auf Kinder zu verzichten. Max war sich fast sicher, dass er es ebenfalls lassen sollte, mal sehen. Als er mit knapp achtzehn einen Arzt um Sterilisation bat, wurde es ihm mit tausend Argumenten ausgeredet.
    Um diese Tageszeit waren Vater und Mutter nie zu Hause. Max hatte das dringende Bedürfnis, wenigstens mit seiner Schwester zu reden. Sie meldete sich auf Anhieb.
    »Mizzi, ich muss dir etwas beichten ...«, begann ihr Bruder.
    Sie hörte zu und lachte.
    »Aber wo ist dein Problem?«
    »Papa hat doch verboten, dem Opa etwas zu verraten.«
    »Na und? Willst du ein Leben lang nach seiner Pfeife tanzen? Ist schon gut, beim nächsten Mal hätte ich es ihm selbst gesagt!«
    Erleichtert wechselte Max das Thema: »Und was macht deine Diplomarbeit?«
    Mizzi hatte sich ein Projekt ausgesucht, das mit der Adenauerzeit und den damaligen lesbischen Lebensentwürfen zu tun hatte.
    »Nicht ganz einfach«, sagte seine Schwester. »Ich habe erst wenige alte Frauen gefunden, die mir Rede und Antwort stehen. Und das sind Ausnahmeerscheinungen. Am liebsten würde ich noch als Untertitel anbringen: Die Mauer des Schweigens. Klingt aber nicht wissenschaftlich genug.«
    Max interessierte sich nicht wirklich für Mizzis Werk. Er erzählte noch ein wenig vom Großvater und weckte wiederum bei ihr keine Anteilnahme. Selbst als Max davon sprach, dass in einem nahegelegenen Altenheim ein Platz in Aussicht war, kam kein Kommentar.
    Papa hatte wieder mal beruflichen Ärger. Im Tiefbauamt der Stadt gab es sehr gegensätzliche Meinungen zu einer seit Jahren geplanten Tiefgarage.
    »Und Mama?«, fragte Mizzi gähnend. »Sie will eine Lesung organisieren und hat im Augenblick nichts anderes im Kopf. Übrigens - da fällt mir noch etwas ein...« Max stockte und suchte nach den richtigen Worten. »Soll dein Zimmer in alle Ewigkeit für dich bereitstehen, oder gedenkst du, irgendwann in den Schoß der Familie...«
    »Spinnst du? Mit meinem Zimmer könnt ihr machen, was ihr wollt. Wenn ich an Weihnachten oder auf der Durchreise mal Station mache, dann kann ich wie alle Gäste in Papas Arbeitszimmer schlafen. Warum fragst du überhaupt?«
    »Na ja, dein Zimmer hat einen Balkon, es ist eigentlich das schönste im Haus. Ich dachte an einen Tausch.«
    »Mensch, da hätte ich doch niemals etwas dagegen! Aber überleg es dir gut, du hast im Souterrain eine eigene Dusche, und Besucher können direkt bei dir klingeln und durch die Garage ein und aus gehen, ohne dass die Eltern etwas davon mitkriegen.«
    Doch gerade der separate Zugang zu seinem Zimmer hatte auch Nachteile. Vor kurzem hatte Max die Garagentür nicht abgeschlossen, und ein mehr als unerbetener Gast stand plötzlich vor seinem Bett und forderte die wöchentliche Abzahlung. Doch das wollte er seiner Schwester auf keinen Fall auf die Nase binden, also meinte er bloß: »Erstens habe ich keine Freundin, zweitens ...«
    »Ach Max, tut mir leid, dass du keine hast, aber das kann sich von einem Tag auf den anderen ändern. Mach's gut, lass dich von den Alten nicht zu sehr terrorisieren, du bist seit zwei Jahren volljährig.«

    Max konnte den Jogginganzug, den die Krankengymnastin angefordert hatte, in der angegebenen Kommode nicht finden. Schließlich entdeckte er die dunkelblaue Hose aus dicker,
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