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Ehrenwort

Titel: Ehrenwort
Autoren: Ingrid Noll
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meisten litt wohl seine Mutter unter der Härte ihres Mannes, aber sie war zu schwach, um sich dagegen zu wehren.
    Erst an Ilses sechzigstem Geburtstag fand eine oberflächliche Versöhnung statt. Sie hatte Willy ihren einzigen Wunsch so oft zu verstehen gegeben, dass er doch noch über den eigenen Schatten sprang und seinem Sohn wieder die Tür öffnete. Erstaunlicherweise fand der Alte Gefallen an seinen kleinen Enkelkindern und an der Schwiegertochter.
    »Fast so fleißig wie meine Ilse, aber mit mehr Verstand und Bildung«, sagte er, was seinen Sohn aber auch verletzte. Er hielt seine Mutter für alles andere als dumm.
    Noch mehr als seine Schwiegertochter schätzte, ja liebte der Alte seine niedliche Enkelin Marie, genannt Mizzi. Nie durfte er erfahren, dass Mizzi seit zwei Jahren mit einer Frau zusammenlebte. Und wenn Harald ganz ehrlich war, konnte er sich auch nicht damit abfinden. Seine Tochter war ein so hübsches Mädchen, es war ein Jammer! Doch wehe, wenn er etwas sagte, das brachte Petra auf die Palme. Ob er seine Kinder verlieren wolle wie sein Vater, drohte sie.
    Erstaunlicherweise kam Max ganz gut mit dem Alten aus, er besuchte ihn jede Woche, und jetzt, wo er im Krankenhaus lag, fast täglich.
    Doch auch um seinen Sohn machte sich Harald Sorgen. Er wollte zwar nicht den gleichen Fehler machen wie sein Vater, aber ob es richtig war, Max finanziell so großzügig zu unterstützen? Brauchte man mit zwanzig Jahren ein eigenes Auto? Andere Studenten fuhren mit dem Rad oder benutzten öffentliche Verkehrsmittel. Leider würde sein Sohn den begehrten Studienplatz für Medizin so bald nicht oder überhaupt nicht bekommen. Anglistik und Kunstgeschichte waren zwar nur eine Übergangslösung gewesen, doch Harald hatte die schwache Hoffnung gehabt, dass Max mit der Zeit Gefallen daran finden und am Ende sogar Lehrer werden würde. Mittlerweile aber hatte sein Sohn das Studium praktisch aufgegeben. Warum suchte er sich dann keinen Ausbildungsplatz oder wenigstens einen Job? Was tat er den lieben langen Tag? Am PC klickte er immer auf ein anderes Programm, wenn Harald reinkam.
    Hätte sein Sohn doch den Zivildienst nicht ausgerechnet in einem Heim für schwererziehbare Jugendliche, sondern bei der Behinderten- oder Krankenbetreuung abgeleistet! Dort hätte er so manches lernen können, wie zum Beispiel seinen Großvater gelegentlich unter die Dusche zu stellen. Petra behauptete, der Alte hätte seit Monaten keine Badewanne mehr bestiegen.
    »Verwahrlost ist vielleicht übertrieben, aber sein Zustand ist nur millimeterweit davon entfernt«, hatte sie festgestellt und sich geschämt, dass man ihren Schwiegervater so heruntergekommen im Krankenhaus abgeliefert hatte.
    Er wird ohnedies nicht mehr lange leben, dachte Harald, für die kurze Zeit werden wir schon einen Modus Vivendi finden. Er erschrak bei diesem Ausdruck, den er wie viele andere von seinem Vater übernommen hatte. Dabei hatte er nie Latein gelernt und sich stets geärgert, wenn ihn sein Vater damit demütigte. Zu allem Überfluss wurde er auch äußerlich dem alten Herrn immer ähnlicher, die Haare lichteten sich, der Rücken krümmte sich, sogar die Nase tropfte, wenn er von einer Baustelle zurück in die warme Stube kam. Hoffentlich mutierte er nicht auch zum Geizkragen. Die Arbeit fiel zunehmend schwerer, und er freute sich darauf, in einigen Jahren dem städtischen Tiefbauamt für immer den Rücken zu kehren.
    Morgen wollte er allerhand organisieren und regeln - auch wenn es gegen die Beschlüsse von Frau und Sohn geschehen musste. Es war ja ein alter Hut, dass Petra zu den Kindern hielt und nicht zu ihm. Als Erstes würde er versuchen, seinen Vater doch im vorgesehenen Altenheim unterzubringen, schließlich gab es eine Pflegestation für Schwerkranke. Sollten dort aber alle Betten besetzt sein, dann musste er es eben mit einem der umliegenden Heime oder Hospize versuchen. Harald hoffte sehr, dass sein Vater sich mit dem Sterben ein wenig beeilen würde.
    In dieser Nacht musste er alle zwei Stunden auf die Toilette, auch dies wohl ein Zeichen von Stress und zunehmendem Alter. Beim dritten Mal gab seine Frau einen mehr als missbilligenden Laut von sich, so dass er seine Decke und das Kopfkissen unter den Arm klemmte und sich in seinem Arbeitszimmer ein Lager machte. Das durchgesessene Sofa behagte ihm auf die Dauer allerdings wenig. Es reichte höchstens für ein sonntägliches Mittagsschläfchen oder einen Gast. Sollte er demnächst erben, dann
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