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Ehrenwort

Titel: Ehrenwort
Autoren: Ingrid Noll
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innen aufgerauhter Baumwolle in einer Truhe; als Max das schwere Kleidungsstück prüfend in die Hand nahm, zerfiel der Gummizug im Bund und an den Knöcheln in bröckelige Bestandteile. Ein entsprechendes Oberteil ließ sich schon gar nicht auftreiben. Da muss Papa ihm wohl oder übel eine seiner eigenen Fitness-Hosen ausleihen, dachte Max schadenfroh.
    Willy Knobels Entlassung in die Reha-Einrichtung für Senioren stand kurz bevor, er konnte mit Hilfe des Physiotherapeuten und des Gehwagens sogar bis zum kleinen Krankenhausladen laufen, wo es Zeitschriften, Getränke und Blumen gab, als es ganz plötzlich zu einer dramatischen Verschlechterung kam. Ein Lungenödem, erfuhr Petra, als sie mit einem neugekauften Fleece-Anzug die chirurgische Station erreichte. Der Alte war kaum ansprechbar, atmete schwer und rasselnd und verweigerte jede Nahrung. Sein Bettnachbar war inzwischen entlassen worden, Willy war ganz allein im Zimmer.
    Als sich sein Zustand weiterhin verschlimmerte, zeigte sich die Ärztin besorgt.
    »Wir müssen den Termin für die Reha absagen«, sagte sie. »Ich fürchte, er wird es überhaupt nicht mehr schaffen.«
    Wie das gemeint sei, fragten Petra und Max.
    »Nun, über kurz oder lang wird er sterben - aber ich kann Ihnen natürlich nicht sagen, ob es sich um Tage oder Wochen handelt. Leider können wir ihn nicht auf der Station behalten, wir brauchen das Bett.«
    »... ja, aber...«, stotterte Petra.
    »Natürlich bleibt er hier, bis Sie einen Platz in einem Pflegeheim oder Hospiz gefunden haben«, sagte die Ärztin. »Wenn es allerdings mein Vater wäre, würde ich ihn zu mir nach Hause nehmen. Wir wünschen uns doch alle, im eigenen Bett einzuschlafen.«
    »Dann machen wir das«, sagte Max, und seine Mutter sah ihn staunend an.
    Die Ärztin zeigte sich beeindruckt.
    »So etwas hört man selten«, sagte sie. »Selbstverständlich werden Sie bei einer so mutigen Entscheidung nicht allein gelassen. Die Krankenkasse wird Ihnen leihweise ein Pflegebett und andere Hilfsmittel zur Verfügung stellen, eine Altenpflegerin oder Krankenschwester wird mindestens zweimal am Tag zum Waschen und Umbetten kommen, und der Hausarzt wird dem Patienten mit palliativen Mitteln den letzten Weg erleichtern.«
    Sie drückte beiden die Hand und eilte davon.
    »Fast hätte sie uns schon ihr Beileid ausgesprochen«, sagte Petra. »Und du hast mich zwar überrumpelt, aber genau die richtige Entscheidung getroffen. Ich bin gespannt, was Papa dazu sagen wird. Bestimmt kriegt er die Krise.«
    Womit sie recht behalten sollte. Harald war anfangs sprachlos, dann wurde er zusehends zorniger, weil Frau und Sohn diesen Entschluss gefasst hatten, ohne ihn auch nur im Geringsten einzubeziehen. Zudem konnte das Zimmer im Altenheim, das jetzt endlich fest gebucht war, nicht bezogen werden, denn man nahm dort keine Sterbenden auf.
    »Macht doch, was ihr wollt!«, brüllte er. »Meine Meinung ist in diesem Haus anscheinend nicht gefragt!«
    Schließlich rief er seine Schwester in Australien an, erfuhr aber vom Schwager, dass Karin sich gerade liften ließ.
    Petra fand am Ende die richtigen Worte: »Es wird ja nicht mehr lange dauern. Und gegen eine baldige Erbschaft hast du bestimmt nichts einzuwenden.«

4

    In dieser Nacht lag Harald lange wach und grübelte. Sein todkranker Herr Papa sollte hier einziehen, dieser Rabenvater, der ihn vor vierzig Jahren verstoßen hatte.
    Der taugte doch nur für die Hauptrolle in dem Moliere-Stück Der Geizige. Wäre seine Mutter nicht gewesen - die ihrerseits unter dem mehr als kargen Haushaltsgeld zu leiden hatte und nur mit Mühe etwas für ihren Sohn abzwackte -, hätte Harald am Ende noch Straßenkehrer werden müssen. Er studierte gerade im dritten Semester, als er mit einem geliehenen Motorrad das Auto eines Professors rammte und einen Blechschaden verursachte. Damals hatte er in der Not einen Scheck gefälscht, zum Glück handelte es sich um keine große Summe.
    Doch sein Vater war nicht nur ein Pfennigfuchser, sondern auch überaus korrekt in der Buchführung. Die Sache kam ans Licht und wuchs sich zu einer Katastrophe aus. Harald wurde vor die Tür gesetzt. Außerdem strich ihm sein Vater jegliche finanzielle Unterstützung.
    Von da an musste Harald während seiner Studentenzeit die unterschiedlichsten Knochenjobs annehmen, obwohl sein Vater als wissenschaftlicher Bibliothekar ein relativ gutes Einkommen hatte. Nach Hause kam Harald nur noch, wenn der Alte - selten genug - verreist war. Am
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