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Ehrenwort

Titel: Ehrenwort
Autoren: Ingrid Noll
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weiter über Ilses Besuche zu wundern. Nun gut, er konnte nicht wissen, dass Opas Frau tot war.
    »Übrigens...«, fragte Hermann Schäfer leise, »ist Ihr Großvater im Ausland aufgewachsen? Er redet manchmal in einer Fremdsprache...«
    »Das war bestimmt Latein«, sagte Max. »Da verstehe ich auch nur Bahnhof.«
    Als Max aufstand und seine Jacke vom Kleiderhaken nahm, dämmerte ihm beim Anblick des Persianers, wieso sein Opa immer von Ilse sprach. Wahrscheinlich hatte der Pelz dem frisch Operierten die vertraute Person vorgegaukelt. Max nahm das gute Stück lieber wieder mit.
    Als Petra zwei Tage später das Krankenzimmer betrat, wirkte die Szene schon viel lebendiger. Nicht ohne Pathos wurde sie vom Schwiegervater begrüßt: »Ave, Petra! Morituri te salutant!« - Zum Glück war der Gruß der Todgeweihten nicht ernst gemeint, fast konnte man die Stimmung hoffnungsvoll nennen. Selbst der griesgrämige Hermann Schäfer lächelte ein wenig. Alle beide machten unter Anleitung des Physiotherapeuten wacklige Stehversuche und konnten mit Stolz vom Lob der Krankengymnastin berichten. Petra hatte Blumen mitgebracht, mehrere Zeitungen und Kreuzworträtselhefte. Sie war die Einzige in der Familie, die lateinische Zitate verstand und zur Freude des Alten sogar gelegentlich in den Mund nahm.
    Als sie sich nach einer halben Stunde zum Gehen wandte, sagte der Alte: »Bitte, mach die Tür fest zu, damit die Wellensittiche nicht fortfliegen.«
    Etwas irritiert sah sich Petra im Raum um, zog die Tür aber wie gewünscht gut hörbar zu. Zum Glück lief ihr die Ärztin über den Weg. Petra fragte nach dem Zustand des Patienten.
    »Sie müssen sich überhaupt keine Sorgen machen«, war die Antwort. »Man spricht von Durchgangssyndrom, wenn ältere Menschen etwas länger brauchen, bis sie die Folgen der Narkose überwinden. Gelegentlich beobachtet man leichte Störungen der Wahrnehmung oder Gedächtnisausfälle, die sich wieder geben. Die Wunde heilt bestens, nächste Woche soll er mit dem Rollator ein bisschen herumwandern. Wenn er weiter gut mitmacht, kann er das Bein bald zu fünfzig Prozent belasten und die Reha antreten. Achten Sie bitte darauf, dass er immer genügend trinkt!«
    Anderntags stellte auch Max fest, dass die Genesung und Mobilisierung seines Großvaters Fortschritte machte. Kaum aber wurde der Mitbewohner zu einer Kontrolluntersuchung abgeholt, nutzte der Alte die Gelegenheit, um über seinen Leidensgenossen herzufallen.
    »Überhaupt keine Kinderstube hat der! Beim Sprechen spuckt er so widerlich, dass ich in Deckung gehe. Ich zähle die Tage, bis ich ihn los bin!«
    »Opa, so schlimm ist Herr Schäfer nun auch wieder nicht. Und wie kommst du mit den Krankenschwestern klar?«
    »Die eine nenne ich Zerberus. Aber zum Putzen kommt ein Engel. Eine Asiatin mit einem zauberhaften Popöchen! Das ist der einzige Lichtblick im Tal der Finsternis« - er hielt kurz inne und fuhr fort: »außer dir natürlich.«
    Sein Blick ruhte gerührt auf seinem Enkel: Max trug einen braunen Kapuzenpullover, Jeans und Turnschuhe. Die dunklen Haare waren sehr kurz, das schmale Gesicht verzog sich beim Lächeln zu einem langen spitzen Dreieck.
    »Opa, du bist wieder ganz der Alte«, sagte Max. »Übrigens - Mizzi lässt dich grüßen.«
    »Wie geht es meinem Augenstern?«
    Max zuckte zusammen. Er riss sich die Beine für seinen Großvater aus, während seine Schwester noch nie einen Finger krumm gemacht hatte und allerhöchstens mal einen Gruß ausrichten ließ.
    »Es geht ihr gut, sie will heiraten!«
    Der Alte strahlte. »Und wer ist der Glückspilz?«, fragte er.
    »Ihre Freundin Jasmin«, meinte Max.
    Der Alte kicherte. Max ließ es dabei bewenden. Mit unbewegtem Gesicht nahm er neue Aufträge entgegen: Ein Trainingsanzug, der angeblich noch in einer Schlafzimmerkommode lagerte, und Kreuzworträtsel sollten besorgt werden.
    »Alle bereits ausgefüllt«, sagte der Alte stolz und übergab seinem Enkel den Beweis. Max warf einen flüchtigen Blick darauf. Tatsächlich war kein Kästchen mehr frei, aber die eingetragenen Worte kamen ihm unbekannt vor. Vorbau eines Hauses: elken, las er, asiatisches Wildrind: Kai.
    Später hatte Max ein schlechtes Gewissen. Immerhin hatte der Alte die Bemerkung über Mizzis Heirat bloß für einen Scherz gehalten, aber wenn er darüber nachgrübelte, würde er die Wahrheit womöglich herausbekommen. So weltfremd konnte selbst ein Neunzigjähriger kaum sein, dass er nicht zwei und zwei zusammenzählte. Im
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