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Ehrenwort

Titel: Ehrenwort
Autoren: Ingrid Noll
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er bestimmt kein Ordnungsfanatiker war oder gar einen Hygienefimmel hatte, kriegte er ein Würgen im Hals, als er die Tür öffnete. Die Kakerlaken in der Spüle, die sich dort wie Gnus am einzigen Wasserloch der Kalahari versammelt hatten, verschwanden blitzschnell. Als würde ein hungriger Löwe auftauchen, dachte Max.
    Das konnte nicht mehr lange gutgehen, der Opa wurde langsam, aber sicher zum Messie. Er sollte lieber heute als morgen das Haus verkaufen und bei seinen Kindern einziehen. Dann brauchte Max auch nicht immer herzufahren, der Alte könnte mit der Familie essen und müsste sich nicht mehr um Dinge kümmern, die ihm über den Kopf wuchsen. Wenn sein Vater nur nicht so stur wäre und Mizzis Zimmer freigeben würde. Auch ein Ringtausch wäre denkbar - Mizzis Balkonzimmer für Max, der Raum im Souterrain für den Opa. Wahrscheinlich kam sein Vater erst zur Einsicht, wenn dem Alten etwas zustieße. »Muss ja nicht gleich ein Herzinfarkt sein«, knurrte Max vor sich hin, »ein Hexenschuss genügt schon.«
    Er nahm eine Packung Fischstäbchen aus dem Kühlfach, gab ranzig riechendes Rapsöl in die Pfanne und stand tatenlos daneben, während sich das Fett langsam erhitzte. Als er die schmierige Flasche wieder ins Regal stellen wollte, entglitt sie und zerschellte auf den Fliesen.
    »Shit happens«, sagte Max, kehrte die Scherben zusammen und wischte kurz mit einem stinkenden Lappen über den Boden.
    Dann bettete er die Fischstäbchen in die Pfanne, briet sie in dem inzwischen sehr heißen Öl etwas zu kross und servierte sie seinem Großvater mit einer Scheibe hartem Roggenbrot, das einen schimmeligen Graustich angenommen hatte.
    »Den Waschkorb habe ich im Flur abgestellt«, meinte er noch. »Soll ich die sauberen Sachen im Schlafzimmer einsortieren?«
    »Junge, wenn ich dich nicht hätte«, sagte sein Großvater mummelnd, erhob sich vom Sofa und schlurfte in die Küche zur Puddingform. Diesmal erhielt Max 200 Euro.
    Zum Glück wollte Max die Haustür gerade erst zuziehen, so dass er den dumpfen Aufprall und fast gleichzeitig den Schrei noch hörte. In Windeseile stürzte er in die Küche zurück, wo sein Großvater auf den Fliesen lag und ihn mit verschrecktem Ausdruck anstarrte. Um ihn herum lagen Splitter von einem zerbrochenen Schnapsglas.
    »Hilf mir auf die Beine, Junge!«, bat er kleinlaut. Max fasste ihn an den kalten Händen und versuchte, ihn hochzuziehen. Der Alte stöhnte auf. »Autsch! Nicht so grob! So geht das nicht«, sagte er. »Hol Hilfe!«
    Max bettete ihm ein Kissen unter den Kopf und rief zu Hause an. Zum Glück war seine Mutter schon von der Buchhandlung zurück. Ihre Anweisungen waren präzise und knapp:
    »Du musst auf der Stelle einen Krankenwagen rufen! Bei einem Schlaganfall kommt es auf jede Minute an. Kann er sprechen, kann er Arme und Beine bewegen?«
    »Mama, alles halb so schlimm, ich glaube, er ist bloß ausgerutscht...«
    Sie gab ihm die Nummer vom Rettungsdienst und versprach, sofort zu kommen. Falls man den Opa in ein Krankenhaus bringe, solle Max mitfahren und sie per Handy informieren. Sie würden sich dann in der Klinik treffen.
    Max legte einen Stoß Zeitungen auf den verschmutzten Küchenboden und setzte sich neben seinen Großvater. Sein schüchterner Versuch, dem Alten die Hand zu halten, wurde verschmäht.
    »Genau hier habe ich meine tote Frau gefunden«, flüsterte der Alte, »auf diesen kalten Fliesen hat sie gelegen, genau wie ich. Max, du hast mich gerettet.«
    Bereits nach zehn Minuten hörte man das Martinshorn. Zwei Sanitäter in weißen Hosen, die Jacken leuchtend orange, stapften herein, vergewisserten sich, dass der Verletzte ansprechbar und der Kreislauf stabil war, und hoben ihn auf eine Trage. Max deckte seinen Großvater mit dem Persianermantel zu und fuhr mit zur Klinik.
    Wahrscheinlich eine Fraktur, meinte der erfahrene Chauffeur, man müsse auf jeden Fall röntgen.
    Inzwischen griff der Alte doch nach der Hand seines Enkels, in seinen Augen standen Hilflosigkeit und Angst.
    »Es wird schon alles wieder gut, Opa«, sagte Max und glaubte selbst nicht daran. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er das ausgelaufene Öl nur oberflächlich beseitigt und somit den Sturz des Alten verursacht hatte.
    Im Krankenhaus traf Max dann auch seine Mutter. Während sie auf das Ergebnis der Röntgenaufnahme warteten, wurde Petra zunehmend nervöser.
    »Ich glaube, ich habe das Bügeleisen angelassen«, sagte sie.
    »Weiß Papa schon, was passiert ist?«, fragte Max.
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